Anekdote eines Tages im Rheingau

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Anekdote eines Tages im Rheingau

Mitte der 1990er-Jahre – das Experiment Deutsche Einheit war auf gutem Wege, die Welt insgesamt fühlte sich friedlich auf Ausgleich bedacht an, die Lissabon-Agenda warf ihre Schatten voraus, Terrorismus, wie der 11. September, war undenkbar, kurz: ein Honeymoon der Weltgeschichte – kam Michail Gorbatschow, wie so häufig, nach Deutschland.

Der ehemalige russische Präsident wurde zu diesem Zeitpunkt in Westeuropa, besonders bei uns Deutschen, sehr verehrt, anders als in seinem Heimatland. Bei diesem Besuch, begleitet von seiner Frau Raissa, besuchte er den Rheingau. Es begann mit einem üppigen Mittagessen mit vielen Gängen, herrlichem Spargel und gutem Rheingauer Riesling. Obwohl meine Frau an jenem Tag verhindert war, wurde ich zum Ehepaar Gorbatschow an den Ehrentisch gesetzt, ein Dolmetscher zwischen uns.

Das Gespräch drehte sich um wirtschaftliche und politische Fragen, natürlich auch um das persönliche Umfeld. Ich sprach Frau Gorbatschowa mit Familiennamen und Ehrentitel an, worauf Gorbatschow mich mit Hilfe des Dolmetschers bat, sie doch Raissa zu nennen. Ich erwiderte, den Namen könne sich jeder Deutsche gut merken, weil eine bezaubernde Frau in Deutschland hinRAISSAnd genannt wird. Schallendes Gelächter beim Ehepaar Gorbatschow und das Versprechen, sich dieses Bonmot zu merken.

Wir tranken noch mehrere Glas Wein, bis Gorbatschow aufstand, um seine Rede zu halten, mit Dolmetscher und abgeschirmt von einigen Sicherheitskräften. So ergab es sich, dass er unter einem mit echten Kerzen bestückten Wandleuchter sprach, der, wohl in Anbetracht der steigenden Raumtemperatur, stark zu tropfen anfing, direkt auf Gorbatschows Anzug. Ich versuchte, die Aufmerksamkeit des Redners, aber auch seiner Entourage, auf dieses Malheur zu lenken, aber vergebens. Mein Winken wurde falsch gedeutet, sogar als impertinent empfunden. So musste die hinreißende Raissa Gorbatschowa sich hinterher sehr intensiv um die Entfernung der Wachsspuren von Gorbatschows Jacke kümmern.

Lieber Michail Gorbatschow, ich sende Ihnen herzliche Grüße zu Ihrem Geburtstag!

Herzlich
Ihr Jürgen Großmann

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