Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Wir hätten die Pandemie im Griff haben können – jetzt kommt es anders. Was ist nur los mit Deutschland?

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SHUTTERSTOCK.DE/LIGHTSPRING
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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Wir hätten die Pandemie im Griff haben können – jetzt kommt es anders. Was ist nur los mit Deutschland?

Was für ein Traum dieser Sommer doch ist: Vor mir ein Kaffee, ein Stückchen Kuchen, ein paar Zeitungen auf dem Stuhl daneben. Die Sonne scheint. Die Stadt ist voll mit Touristen, die ausgelassen das absehbare Ende der Pandemie feiern. Irgendjemand aus der Veranstalterszene hat für den Spätsommer eine Pandemie-Parade auf dem 17. Juni in Berlin angemeldet – es soll irgendwas zwischen Karneval der Kulturen, Loveparade und CSD werden. Wahrscheinlich noch mit Maskenpflicht – aber eher so als Gag.

Es herrscht vorsichtige Ausgelassenheit nach der Naturkatastrophe. Mit meiner Impfung gegen Covid-19 ging es am Ende ganz schnell, seitdem das ganze Gesundheitssystem impft und die Impfzentren vollgelaufen sind: 24 Stunden, sieben Tage die Woche in der ganzen Republik – die freiwilligen Helferinnen und Helfer haben einen Riesenjob hinter sich. Gerade eben habe ich mich noch mit meiner App am Café-Eingang eingecheckt.

Das ganze System wirkt Wunder: Seit zwei Wochen sind wir stabil unter zehn Infizierten pro 100 000 Einwohnern. Die Gesundheitsämter haben damit schon hunderte Superspreader entdeckt und viele Infektionsketten durchbrochen. In Deutschland und fast überall in Europa haben wir Herdenimmunität erreicht. Ach ja: Der Clou war, dass die neue Kontaktverfolgungs-App gemeinsam mit der Corona-Warn-App die Pandemiebekämpfung komplett verändert hat, irgendwann mal im Frühjahr. Damals haben die Leute auch angefangen, sich selbst auf das Coronavirus zu testen und sich bei positiven Ergebnissen selbst aus dem Spiel zu nehmen. Selbst-Quarantäne – hat super geklappt. Klar, es hat auch geruckelt in Deutschland. Gut war, dass im Sommer 2020, als klar war, dass die neuartige mRNA-Technologie aus der Krebsforschung Hoffnung macht auf einen Impfstoff zum Schutz vor Covid-19, alle an einem Strang gezogen haben: die Entwickler aus der Start-up-Szene und die ganze deutsche Industrie. Da wurden Produktionskapazitäten auf Verdacht hochgezogen. Der deutsche Maschinenbau und die chemische Industrie haben gezeigt, was sie noch draufhaben – auch wenn alle nur noch von Digitalisierung reden. In Ludwigshafen haben sie die Vorproduktion wichtiger Grundstoffe wie der Lipide hochgefahren – war ja klar, dass man die braucht für die neuen Impfstoffe, weil ja die ganze Welt versorgt werden muss, vor allem auch die Schwächsten. Naja, und dann war’s einfach auch gut, die drei Wochen im November den Laden komplett dichtzumachen – und kurz noch mal in einen richtigen Lockdown zu gehen. Das war der Schlüssel für diesen Sommertraum: die relativ niedrigen Ansteckungszahlen im Winter. War nicht schlimm – im November war ja klar, dass die Impfung wirkt und die Produktionsmaschinen rotieren.

Was für ein schöner Sommertraum – allein das Aufwachen schmerzt. Und der Gedanke, wie es hätte laufen können im gemeinsamen Kampf aller gegen das Virus, führt geradewegs in den Albtraum der tatsächlichen Pandemie-Bekämpfung in Deutschland, wie fast überall Europa im März 2021. Allein die Sache mit der Herdenimmunität im Juli hat schon ihre Richtigkeit. Allerdings nicht in Deutschland, sondern in den USA. Dort könnten fast 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sein, wenn das Land die Impfrate noch auf drei Millionen pro Tag hochschrauben kann – derzeit sind es zwei Millionen. Spritzen im Akkord: Auf Riesenparkplätzen wird im Drive-in-Stil gerade eine nach der anderen in amerikanische Oberarme gesteckt.

Nichts in dieser Dimension passiert in Deutschland. Und das liegt nicht nur daran, dass erst im April die Lieferungen der Impfstoffe anziehen. Dieses Wochenende liegen Millionen von Dosen ungenutzt in Kühlschränken im Land. In sieben Bundesländern wurde vergangenen Sonntag, vielleicht sogar das ganze Wochenende, gar nicht geimpft. Wir lassen uns ja unsere Ruhezeiten nicht nehmen. Darunter das Saarland, Nachbarregion des Départements Moselle, der bevölkerungsreichsten Region Lothringens, wo unsere Freunde verzweifelt gegen Virus-Varianten ankämpfen. Das Straucheln der deutschen Impfkampagne ist seit Ende Februar mit einem Zitat verbunden: „Das Ganze ist irgendwie schlecht gelaufen“, räumte der Leiter der Ständigen Impfkommission, Thomas Mertens, in einem Interview im „heute-journal“ des ZDFs ein.


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Gemeint war die Empfehlung seiner alle drei Jahre vom Bundesgesundheitsminister ernannten Kommission für den Impfstoff des britisch-schwedischen Herstellers AstraZeneca, der gemeinsam mit der Universität Oxford entwickelt wurde. Die Impfexperten waren der Meinung, dass der für Über-64-Jährige nicht freigegeben werden solle, weil nicht genug Daten vorlägen. Blöd nur, dass die europäische Arzneimittelbehörde EMA dieses Problem nicht gesehen hatte bei ihrer Zulassung. Diese Empfehlung bescherte dem in Großbritannien hochwirksamen Impfstoff ein schlechtes Image vor allem beim Medizinpersonal, das sich verweigert, obwohl es schon impfberechtigt ist. Auch beim Abstand zwischen erster und zweiter Impfdosis schlugen die Deutschen einen Sonderweg ein. Während Frankreich entsprechend des Beipackzettels den Maximalabstand 42 Tage seit 23. Januar für alle verfügbaren Impfstoffe ausreizt, empfehlen Mertens und die Impfkommission noch immer 28 Tage für die beiden neuartigen mRNA-Impfstoffe von BioNTech-/Pfizer und Moderna – wohl wissend, dass der Impfstoff anfangs knapp ist. Hinter den Kulissen tobte Wochen lang ein Expertenstreit zwischen Mertens auf der einen und einer Gruppe um den Virologen Christian Drosten und dem Pandemie-Modellierer Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt-Universität auf der anderen Seite. Wer das Impfintervall streckt, kann mehr Menschen die erste Spritze geben und so Leben retten, zwischen 10 000 und 15 000, hat Brockmann gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Benjamin Maier sowie Michael Meyer-Hermann vom deutschen Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, dem deutschen Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) und anderen modelliert. Gleichzeitig zeigen Studien aus Schottland, Israel und den USA, dass schon die Erstimpfung die besonders gefährdeten Risikogruppen vor schweren Krankheitsverläufen und dem Tod durch Covid-19 schützt.

Ist es Überforderung? Bürokratie-Huberei? Vielleicht aber auch einfach das bekannte „Haben wir schon immer so gemacht“? Nur: Eine Pandemie haben wir seit hundert Jahren nicht mehr durchgemacht. Wohl wissend um die anfängliche Impfstoffknappheit auch in Großbritannien, haben sich dort die zuständigen Impfexperten gleich auf einen Impfabstand von 90 Tagen festgelegt – um mehr spritzen zu können. Jetzt ist ein Drittel der Briten erstmals geimpft, und die Todesraten sinken exponentiell. Grundlage war eine Güterabwägung: Das Retten des Lebens vieler wiegt höher als mögliche Komplikationen bei wenigen. Doch wäre es nur die Impfkommission, deren Empfehlungen vom Bundesgesundheitsminister per Verordnung auch übergangen werden können – das ließe sich heilen. Doch die Liste der Unzulänglichkeiten von Verantwortlichen auf Regierungsseite und Landespolitikern wird immer länger. Nach der Ministerpräsidentenkonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Woche soll der Lockdown regional differenziert etwas geöffnet werden.

Eine regionale Unterscheidung schlägt seit mehreren Monaten auch die No-Covid-Initiative vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor: wenn die Kontaktverfolgung von Infizierten gesichert ist. Allein, das ist sie selbst in Landkreisen mit einer Inzidenz von unter zehn pro 100 000 Einwohnern nicht, weil gerade diese Woche erst beschlossen wurde, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Zum Beispiel mit der Kontaktnachverfolgungs-App Luca, die in Nordfriesland und in Teilen Thüringens seit einigen Monaten von Gesundheitsämtern erfolgreich getestet wird. Das System kann nicht nur die Zettelwirtschaft von Anmeldungen zum Beispiel in der Gastronomie beenden, sondern den Gesundheitsämtern helfen, Superspreading-Ereignisse zu finden und die Betroffenen aus dem Ansteckungsspiel zu nehmen.

Ins Leben gerufen wurde die private Initiative einer Start-up-Ausgründung des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam und der deutsch-schwäbischen Hip-Hop-Band „Die Fantastischen Vier“ im August vergangenen Jahres. Die Musiker mussten damals zu Hause bleiben, anstatt ihr 30-jähriges Jubiläum mit einer krachenden Tournee zu feiern. Im August! Eine Privatinitiative! Da fragt man sich, was die Politik im Spätsommer 2020 eigentlich so getrieben hat. Eine schlaue Nachverfolgungs-App für Gastronomie und Handel zusätzlich zur Corona-App hat sie jedenfalls nicht in Auftrag gegeben.

Es bildet sich ein Bild heraus zwölf Monate nach Beginn des ersten Lockdowns in Deutschland. Es ist ein Bild der Langsamkeit. Leider gibt es aber eine Grundkonstante bei allen Analysen erfolgreicher Pandemie-Bekämpfung: Nur wer schnell ist, gewinnt den Kampf gegen das Virus. Doch Deutschland ist nicht schnell. Die Politik ist ebenso zaghaft wie viele Entscheider in der politiknahen Verwaltung. Warum? Einer der treibenden Wissenschaftler antwortet kurz: „Angst.“ Sie verhagelt uns gerade einen Sommertraum und kostet viele Menschenleben.

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