Aufreizender Pragmatismus

Eine Ampel-Koalition könnte mehr Kontinuität zur Ära Merkel bedeuten, als die Erneuerungsprosa im Spiegelstrichdeutsch verheißen mag

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PICTURE ALLIANCE/AP PHOTO | ROBERTO PFEIL
Wie jung wir waren: Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine nach dem rot-grünen Wahlsieg 1998.
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Wie jung wir waren: Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine nach dem rot-grünen Wahlsieg 1998.

Aufreizender Pragmatismus

Eine Ampel-Koalition könnte mehr Kontinuität zur Ära Merkel bedeuten, als die Erneuerungsprosa im Spiegelstrichdeutsch verheißen mag

Noch ist nichts in trockenen Tüchern. Selbst die Neuauflage der bisherigen Koalition aus Union und SPD unter umgekehrten Vorzeichen oder das Experiment einer rot-grünen Minderheitsregierung sind noch nicht ganz vom Tisch. Viel wahrscheinlicher ist aber derzeit eine Ampel-Koalition. Man ahnt schon die Leitbegriffe, Floskeln und Überschriften, mit denen einem solchen Bündnis Sinn eingehaucht werden dürfte. Mit „Respekt – Nachhaltigkeit – Wachstum“ könnte der Koalitionsvertrag am Ende betitelt sein, vielleicht auch mit „Klima retten, Wirtschaft stärken, Zusammenhalt schaffen“. Es wird eine Erzählung sein, die die Versöhnung von ökonomischer und ökologischer Vernunft propagiert und dabei auf die soziale Balance achten will. Es wird auch nicht an Versuchen mangeln, eine Ampel-Koalition als historische Synthese und Fortschreibung der sozial-liberalen Koalition nach 1969 und der rot-grünen Koalition nach 1998 zu stilisieren. Gut möglich sogar, dass ein solches Narrativ sogar verfängt und der Koalition eine Zeitlang zu einer Art kulturellen Hegemonie verhilft.

Was vor uns liegen kann, dürfte aber um einiges nüchterner geraten. Schon die sozial-liberale Koalition und die rot-grüne Koalition waren einst prosaischer und konfliktbeladener, als es die legitimierenden Narrative von Demokratisierung und Modernisierung erkennen ließen.

Anders als 1966/69 und 1998 wird es diesmal ohnehin keinen echten Machtwechsel geben. Die SPD regiert mit einer kurzen Unterbrechung das Land seit 1998 und hat der Regierung gerade in den vergangenen acht Jahren überdeutlich ihren Stempel aufgedrückt. Diese sozialdemokratische Schwerkraft wird auch in einer Ampel-Koalition weiterwirken. Ein Kanzler Olaf Scholz würde ähnlich wie Angela Merkel ein Pathos des aufreizenden Pragmatismus verströmen, an dem viele programmatische Blütenträume der Parteien zerschellen werden. Vielleicht ist Scholz mittlerweile sogar etwas versierter als Merkel darin, die emotionalen Bedürfnisse seiner eigenen Partei dosiert zu bedienen und die Koalitionspartner in ihrem Ehrgeiz auflaufen zu lassen.

Kehrtwenden weg von der Politik, die Angela Merkel und die von ihr moderierten Bundesregierungen verfolgten, sind auch deshalb nicht zu erwarten, weil die Ambitionslosigkeit und Passivität der vergangenen sechzehn Jahre nicht auf das Unvermögen einer Partei oder einer Person zurückzuführen sind. Dahinter steht ein stillschweigender Konsens aller demokratischen Parteien, bestimmte Herausforderungen noch nicht einmal zu ignorieren.

Die Ära Merkel waren deshalb verlorene Jahre im Hinblick auf die Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme. Es wurden sogar noch zusätzliche Belastungen draufgesattelt – von der Mütterrente bis hin zur Niedrigzinspolitik, die jede Art von Vorsorge verleidet. Es spricht wenig dafür, dass ausgerechnet eine Ampel-Koalition hier nun ohne Not unpopuläre Strukturreformen auf den Weg brächte.

Eine weitere Erblast der Ära Merkel ist die schleichende Abkehr von der Stabilitätskultur der europäischen Währungsunion. Es ist nicht zu erwarten, dass eine Ampel-Koalition hier weniger nachgiebig wäre und den Begehrlichkeiten vieler europäischer Partner nach einer Vergemeinschaftung von Schulden entschlossener entgegenträte. Der Trend zu immer höheren Staatsschulden, immer niedrigeren Zinsen und immer laxerer Geldpolitik wird sich auch unter einer solchen Koalition fortsetzen, wenn nicht sogar forcieren.

Oder man nehme die Frage nach Innovation und Wettbewerbsfähigkeit des Landes: Der Glaube, dass der Staat Innovationen vorhersehen und lenken können und er sich auch selbst dafür zum Unternehmer aufschwingen dürfe, ist beileibe nicht nur eine Spezialität des scheidenden Wirtschaftsministers Peter Altmaier und des irrlichternden EU-Kommissars Thierry Breton. Der paternalistische Dirigismus, der nahezu alle Bereiche der Wirtschafts- und Strukturpolitik inzwischen durchdringt und von allen Parteien exekutiert wird, wird auch unter den Bedingungen einer Ampel-Koalition weiterwirken und neue Blüten treiben. Oder wer würde von einer Ampel-Koalition ernstlich erwarten, dass sie eine Staatsreform auf den Weg brächte, die der lähmenden Verflechtung und Diffusion von politischer Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen entgegenwirken würde? Und wer traut einer Ampel-Koalition wirklich zu, dass sie sich von dem sorglosen Trittbrettfahrertum der Bundesrepublik in der Außen- und Sicherheitspolitik verabschiedete und eine neue Verantwortungskultur begründen würde?

Man sollte also eine Ampel-Koalition nicht mit unrealistischen Erwartungen überfrachten. Sie wäre – genauso übrigens wie eine Jamaika-Koalition – ein fragiles Gebilde, ein Patchworkmuster von koexistierenden Teilpolitiken, eingeengt durch institutionelle Schranken des Föderalismus und widerborstige Bundesratsmehrheiten, mit viel Kleinklein und Ängstlichkeit im Alltag des Regierens.

Es gibt allerdings auch Anlass zu ein wenig Optimismus. FDP und Grüne haben die strategische Chance, miteinander ritualisierte Konflikte zu überwinden und den politischen Konsens zu verändern. Vielleicht gelingt es beiden ja tatsächlich, in der Klimapolitik eine gemeinsame Vorstellung davon zu erarbeiten, wie man die Dekarbonisierung ohne Deindustrialisierung erreicht und wie man effizienten und effektiven Klimaschutz durch marktwirtschaftliche Instrumente umsetzt. Vielleicht bringen beide Parteien auch einen gesellschaftspolitischen Konsens darüber zustande, wie die in der Corona-Pandemie zuletzt arg strapazierten Freiheitsrechte der Bürger gestärkt werden können. Die Kooperation beider Parteien bietet auch eine Chance zur Erneuerung des intellektuellen Diskurses in unserem Lande, der zuletzt arg unter Empörung, Moralisierung und Dialogunfähigkeit litt.

Und schließlich sollte man auch im Sinne des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann nicht vergessen, dass eine schöne politische Theorie bisweilen durch eine Bande brutaler Fakten erschlagen wird. Will sagen: Spiegelstrichlastige Koalitionsverträge und salbungsvolle Regierungsnarrative sind schnell Schall und Rauch, wenn die politische Agenda durch Krisensituationen über den Haufen geworfen wird. Davor wäre auch eine Ampel-Koalition nicht gefeit, was immer sie sich anfangs auch vornehmen mag. Dann käme es auf den Faktor Persönlichkeit an: Wäre eine Verteidigungsministerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann einer solchen Krisensituation gewachsen? Oder ein Innenminister Robert Habeck? Oder ein Gesundheitsminister Karl Lauterbach? Es ist also gut möglich, dass die historischen Verdienste einer Ampel-Koalition am Ende gar nicht in den hehren programmatischen Vorsätzen liegen, die in den kommenden Wochen mühsam ausgehandelt werden, sondern in improvisierten Entscheidungen, die einer solchen Regierung durch widrige Umstände gegen ihren Willen abgerungen werden.

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