Aus der Mitte entspringt ein Fluss

Gefährden die vielfältigen Krisen die Stabilität der Demokratie in Deutschland? Genau, es kommt darauf an

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ISTOCKPHOTO.COM/ALEXEY BEZRODNY
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Aus der Mitte entspringt ein Fluss

Gefährden die vielfältigen Krisen die Stabilität der Demokratie in Deutschland? Genau, es kommt darauf an

Wie reagieren Wähler auf schwere Politik- und Wirtschaftskrisen? Schicken sie die Regierung in den Orkus und stärken rechts- und linksradikale Parteien? Geht die Mitte verloren? Das ist das deutsche Trauma vom Ende der Weimarer Republik 1933.

Oder schlägt die Stunde der Exekutive: Die große Mehrheit versammelt sich hinter der Regierung, bildet eine Wagenburg und lässt die Radikalen von außen dagegen anrennen? So reagierten die US-Amerikaner auf die Folgen der Weltwirtschaftskrise mit dem Reformpräsidenten Franklin D. Roosevelt, der am 4. März 1933 – fünf Tage nach dem deutschen Reichstagsbrand – sein Amt mit dem Versprechen eines New Deal antrat. Zwei diametral gegensätzliche Reaktionen in der gleichen Krisenzeit.

Es gibt keine ehernen Gesetze, wie die Bevölkerung auf Krisen reagiert. Drei Szenarien sind denkbar. Erstens: Krisen stärken die Regierung – unser US-Beispiel signalisiert das. Zweitens: Krisen stärken die parlamentarische Opposition. Das haben wir in Deutschland selten erlebt – nicht nach dem Mauerbau 1961, als Konrad Adenauer erneut und ein letztes Mal triumphierte, nicht nach ersten Problemen der Wiedervereinigung nach 1990, der Bankenkrise 2008 oder der Flüchtlingskrise 2015. Erst Helmut Kohl, dann Angela Merkel regierten unerschütterlich weiter. Und drittens: Krisen stärken die außerparlamentarische Opposition. Ja, ab 1966 blühte am Rande der ersten Großen Koalition – in der die Regierungsparteien, kaum vorstellbar heute, mehr als 90 Prozent der Bundestagsmandate innehatten und die damit die einzige wirklich „Große“ war – eine Apo, eine Außerparlamentarische Opposition auf. Aber sie hat mehr auf die politische Kultur als auf die harte Politik gewirkt.

Im Mutterland des Parlamentarismus und der Opposition, in Großbritannien, sind derzeit die Krisen groß, aber die parlamentarische Opposition der Labour Party ist trotzdem schwach. Auf die Straße gehen die Briten auch nicht. Es gibt keinen Krisendeterminismus. Es kommt also immer darauf an. Aber auf was? Auf die Reaktion der Politik und der Politiker? Auf die Reaktion der Wirtschaft? Auf die Reaktion der Medien? Auf die Reaktion des internationalen Umfeldes? Eben auf alles. Und das macht Prognosen so überaus schwierig.

Als ein eher optimistischer Typ bin ich angesichts der Krisen, die wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, meistens zuversichtlich geblieben, dass nach Zuspitzungen Wendepunkte kommen, die oft sogar reinigend und stärkend wirken. So ist es oft geschehen. Und so wird Deutschland in Sachen Politik, Wirtschaft und Kultur von vielen als Vorbild gesehen. Nur nicht im eigenen Lande.

Aber heute gibt es eine neue Situation, die selbst den größten Optimisten zweifeln lässt. Denn die multiplen Krisen, die Polykrisen der Gegenwart – weltweite Klimakrise, weltweite Pandemie, weltweite Folgen des russischen Angriffskrieges, weltweite Folgen für die Ernährung, für die Umwelt und für die Handlungsfähigkeit der Diplomatie – türmten sich noch nie so hoch. Wer kann da noch Optimist bleiben?





Wird es eine radikale Polarisierung und Zerfaserung der europäischen Parteiensysteme geben, auch in Deutschland, wie schon in Italien, Spanien, Frankreich? Dort haben die Krisen die zentrifugalen Kräfte bestärkt. Emmanuel Macron und Mario Draghi sind eingeklemmt zwischen Rechts- und Linkspopulisten. Steht das auch Deutschland bevor? Der Verlust der Mitte? Auch Deutschland hat ein Problem mit Rechtradikalismus und Antisemitismus, bisher eher moderat, wenn man an die rund 10 Prozent der AfD denkt oder die auf weniger als 5 Prozent gefallene Linkspartei. So hat sich das Land in den Krisen der vergangenen 20 Jahre im europäischen Vergleich erstaunlich stabil erwiesen.

Müssen wir uns deshalb keine Sorgen machen? Werden die deutschen Wähler sich schon hinter der Regierung versammeln, wenn es im Herbst und Winter hart auf hart kommt? Wenn die Klimaziele in immer weitere Ferne rücken? Wenn das Gas ausbleibt und astronomisch teuer wird, die Menschen frieren, wenn der Ukrainekrieg immer mehr Leid und keine Lösung bringt, wenn die Corona-Pandemie erneut zuschlägt?

Als Experte für Politik habe ich ein halbes Jahrhundert dazu geforscht, gelehrt und manchmal beraten. Aber weiß ich, was wird? Ich bin äußerst skeptisch gegenüber den Wissenden, die oft Besserwisser sind. Prognosen begleiten uns zwar täglich, wie der Wetterbericht und der Konjunkturklimaindex. Aber sie sind risikoreich. Selbst die Meteorologie, die es nur mit naturwissenschaftlichen Fakten zu tun hat, kann keine Vorhersage über drei Monate wagen. Wie sollte es dann der Politikwissenschaft gelingen? Die es mit weichen Fakten zu tun hat und noch dazu damit, dass ihre Prognosen das Verhalten beeinflussen, etwa vor Wahlen, und so eine self-fulfilling prophecy sind?

Man kann also nicht die eine Lösung vorhersagen, sondern nur Szenarien entwickeln, wie oben schon versucht wurde. Allerdings scheinen die ersten beiden Szenarien für Deutschland die wahrscheinlicheren. Also Versammlung hinter der Regierung, wenn sie Vertrauen schafft und dieses auch richtig kommuniziert. Da klaffen derzeit riesige Lücken. Oder Stärkung der Opposition, wenn ihr das besser gelingt. Das dritte Szenario, das in Frankreich schon vor einiger Zeit in den Gelbwestenprotesten virulent war, scheint für Deutschland weniger naheliegend.

Die deutsche Demokratie ist stark geworden. Seit den 1970er-Jahren erlebte das Land eine „partizipatorische Revolution“, wie Max Kaase dies nannte. Das zeigen auch die Regierungsdaten: drei Kanzler, die fast 16 Jahre regierten, und alternierende Parlamentsmehrheiten, die sich auch im Vielparteiensystem ohne große Probleme bilden, wie bei der amtierenden Ampel. Welches größere europäische Land kann diese Stabilität für sich reklamieren? Bitte keinen deutschen Hochmut, dazu ist überhaupt kein Grund angesichts unserer vielen Probleme. Aber für die allzu beliebten Kassandrarufe ist auch kein Anlass.

Droht nun „der Verlust der Mitte“ im kommenden harten Winter? Seien wir vorsichtig mit diesem Topos. Denn das Wort vom Verlust der Mitte stammt nicht von Soziologen, Politologen oder der FDP. Sondern von einem konservativ-reaktionären Kulturkritiker der 1950er-Jahre, Hans Sedlmayr, der behauptete, dass wir in Kunst und Architektur eine ominöse geistige „Mitte“, beispielsweise durch abstrakte Kunst oder das verkopfte Bauhaus, verloren hätten. Nein, die Mitte ist mitten unter uns. Gerade die lagerübergreifende Ampel verkörpert diese mit SPD, Grünen und FDP. Wenn sie sich nicht auseinanderdividieren lässt und Vertrauen in schweren Zeiten schaffen kann, hätte sie eine Chance.

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