Aus der Mitte entspringt kein Fluss

Die Zeitenwende trifft vor allem die Basis der Volksparteien SPD und Union

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PICTURE ALLIANCE/BILDAGENTUR-ONLINE/OHDE
Splitterparteien von morgen? SPD und Union verlieren stetig an Mitgliedern – und Jungwählerinnen und -wählern
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Splitterparteien von morgen? SPD und Union verlieren stetig an Mitgliedern – und Jungwählerinnen und -wählern

Aus der Mitte entspringt kein Fluss

Die Zeitenwende trifft vor allem die Basis der Volksparteien SPD und Union

Offenkundig erleben die Volksparteien nach Zeiten des Herbstes einen neuen Frühling. Sie schlagen sich bei den jüngeren Wahlen auf Bundes- und Landesebene dermaßen gut, dass sie daraus wie gehabt als Marktführer hervorgehen. Und dies sichert ihnen das Privileg, weiterhin das Kanzleramt und die Chefsessel der Landesregierungen besetzen zu können.

Stehen für die Volksparteien erneut goldene Zeiten an, oder müssen sie sich angesichts der „Zeitenwende“ nach einem Zwischenspiel auf eine verdüstere Zukunft gefasst machen? Entscheidend für den Erhalt ihrer Erfolgspotenziale dürfte die Frage sein, wie sie die auf sie zukommenden immensen Herausforderungen meistern werden.

Wie Volksparteien aus der Zeit zu fallen drohen

Nach wie vor können die Volksparteien SPD und Union ihr Erfolgsrezept der schichtenübergreifenden Umfassungs- und Integrationsparteien geltend machen, an das die Grünen oder die FDP als begrenzte Milieuparteien nicht heranreichen. Nur zehrt ihre schwindende Verwurzelung in der Zivilgesellschaft und Wählerschaft an ihrem Alleinstellungsmerkmal.

Einmal bleibt der Nachwuchs an Jungmitgliedern aus. Ihre Mitgliederzahl schrumpft unaufhaltsam und gleichzeitig altern sie. In SPD, CDU und CSU sind mehrheitlich Menschen, organisiert, die älter als 60 Jahre sind, was absehbar zur weiteren Halbierung ihrer jetzigen Mitgliederstärke führen wird. Das Frauendefizit unter den Mitgliedern von CDU und CSU ist chronisch. Attraktive, dynamische Mitgliederparteien sehen anders aus.

Das Bild auf Seiten der Wählerinnen und Wähler ist ähnlich. Der Anschluss an jüngere, städtische Wählerkreise geht den Volksparteien immer bedrohlicher verloren, sodass sie ihre elektorale Absicherung dem Wählerkreis der über 60-Jährigen verdanken. Für Jungwähler scheinen sie dagegen aus der Zeit zu fallen. Die fühlen sich stattdessen von den Grünen und merklich auch von der FDP angezogen, die weitaus stärker ihrem Lebensgefühl und ihren politischen Prioritäten entsprechen. Kurzum, als überalterte Generationenparteien haben die Volksparteien keine gesicherte Zukunft.

Wie Volksparteien die „Zeitenwende“ zusetzt

Noch verfügen die Volksparteien über einen Wähleranteil, der ihnen den Griff auf das Kanzleramt und auf die Spitzenposten der Landesregierungen ermöglicht. Sie schlagen sogar aus der gegenwärtigen Phase der krisenhaften Verunsicherung über den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruch politisches Kapital, weil die Wiederwahl ihrer Spitzenamtsinhaber sich mit dem Wunsch nach Sicherheit deckt. Dieses Stabilitätsmotiv ist speziell bei älteren Semestern ausschlaggebend. Indes können sich zukünftig SPD und Union der Auszahlung des Amtsbonus nicht mehr sicher sein.

Zunächst noch zahlte sich für die Volksparteien ihr Verstaatlichungs­prozess nach 1949 aus, der sie zu staatsverflochtenen, staatstragenden und staatszentrierten Institutionen machte. Als Staatsparteien machten sie für die breite Bevölkerung das Versprechen wahr, das hohe Wohlstands- und sozialstaatliche Absicherungsniveau zu erhalten. Umgekehrt macht sie dies umso anfälliger, für die Verschlechterung der Lebensumstände in Haft genommen und „abgestraft“ zu werden.

Dass es dazu kommen wird, ist durch die „Zeitenwende“ vorgezeichnet. Diese angekündigte Zäsur geht bekanntlich auf die Regierungs­erklärung von Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 zurück, mit der er auf den russischen Überfall auf die Ukraine reagierte. Geplant ist ein massives Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr. Zudem lässt Deutschland sein striktes Rüstungsexportverbot in Krisenländer fallen und liefert Waffen an die Ukraine. Deutschland will sich zudem im Gefolge des Sanktionsregimes gegen Russland aus seiner Abhängigkeit von russischen Importen an Kohle, Öl und Gas vollständig befreien. Grundlegender geht es um das ambitionierte klimapolitische Ziel, die Energieversorgung der Wirtschaft, des Verkehrs und des Wohnens auf eine CO2-neutrale regenerative Energiebasis umzustellen.

Mit dem ökologischen Umbau sind steigende Energiekosten, Eingriffe in die individuelle Mobilität und den Individualverkehr sowie tiefgreifende Umstrukturierungen des Arbeitsmarktes zu erwarten. Gleichzeitig wird es im Gefolge des Ukrainekrieges absehbar zur Entflechtung globaler Wirtschafts- und Handelsbeziehungen kommen, worunter die Exportnation Deutschland besonders stark leiden und entsprechende Wohlstandsverluste hinnehmen wird. Kurzum, es dürfte für die Parteien zu einem blame game kommen, in dem sie für das sinkende Wohlstandsniveau verantwortlich gemacht werden.

Aus dem Zeitenwendeumbruch ziehen die Grünen Vorteile, weil sie als ausgewiesene Klimapartei den Volksparteien die Kompetenz zur Bewältigung der Klimakrise erfolgreich streitig machen werden. Für die wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Folgen des ökologischen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft werden dagegen die Volksparteien verantwortlich gemacht werden. Die Zeitenwende fällt nämlich mit einer gesellschaftlichen Gemengelage zusammen, in der die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, die Inflation grassiert, die Mieten weiter steigen und die Energiekosten explodieren.

Zu erwarten ist, dass der kostenintensive Umstieg auf erneuerbare Energiequellen, auf Energieeinsparungen und Energieeffizienz von der Großstadtklientel der Grünen weitaus eher goutiert werden wird, während es für SPD- und teilweise Unionswähler um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes und ihres Lebensstandards geht. Auch vom Ausstieg aus Kohle, Kernenergie und Gas bei Industrie, Handwerk und Verkehr lässt sich die staatsnah beschäftigte grüne Wählerschaft kaum erschüttern. Die Volksparteien trifft indes die volle Verantwortlichkeitslast für das sinkende wirtschaftliche und soziale Wohlergehen der Bevölkerung. Zwar haben sie sich in Krisen als Meister des Makelns widerstreitender Interessen und des politischen Durchwurstelns bewährt. Wenig spricht indes dafür, dass sie sich mit diesem Vermögen durch die Zeitenwende durchlavieren könnten.

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