Auslaufmodell AKP

Kann Kemal Kiliçdaroğlu mit einem Sechsparteienbündnis Präsident Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 14. Mai bezwingen?

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PICTURE ALLIANCE/DPA | FRANK RUMPENHORST
Herausforderer: Kemal Kiliçdaroğlu von der CHP ist der Kandidat der „Sechsertafel“.
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PICTURE ALLIANCE/DPA | FRANK RUMPENHORST
Herausforderer: Kemal Kiliçdaroğlu von der CHP ist der Kandidat der „Sechsertafel“.

Auslaufmodell AKP

Kann Kemal Kiliçdaroğlu mit einem Sechsparteienbündnis Präsident Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 14. Mai bezwingen?

Am 14. Mai wählen die Türken ein neues Parlament und – möglicherweise – einen neuen Staatspräsidenten. Es wäre für Recep Tayyip Erdoğan, den Führer einer islamistischen „Gegenelite“ (Rainer Hermann), eine Genugtuung, wenn die bisher herrschende Regierungspartei AKP die Wahlen gewönne und er selbst im Amt bestätigt würde. Und dies im hundertsten Jahr der Republik-Gründung durch Mustafa Kemal Atatürk.

Umfragen sind in der Türkei weitaus unsicherer als anderswo. Immerhin trauen die Institute der AKP noch ein Ergebnis von etwa „dreißig plus“ Prozent zu – mit Schwankungen nach oben. Erreichte sie dieses Ergebnis, wäre sie stärkste Partei und könnte mit ihren „Partnern“, der rechtsextremen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) und der BBP (Partei der Großen Einheit), an der Macht bleiben. Dennoch ist ein Wechsel wahrscheinlicher geworden, denn es ist dem Oppositionsführer und Chef der sozialdemokratisch-laizistischen CHP (Republikanische Volkspartei), Kemal Kiliҫdaroğlu, gelungen, ein Oppositionsbündnis zu schmieden. Es umfasst sechs Parteien und wird deshalb die „Sechsertafel“ genannt. Sie besteht – neben der CHP – aus der Deva-Partei und der Iyi Parti (Gut-Partei) von Meral Akşener sowie drei kleinen Parteien. Der IP traut man elf Prozent zu, der CHP 25 bis 28. Zusammen mit der Deva und den Kleinen könnte es für die Opposition reichen, vorausgesetzt, sie zerstreitet sich nicht. Große Unbekannte ist die prokurdische HDP, die von der „Sechsertafel“ ferngehalten werden soll, aber vielleicht gebraucht wird. Bei der Präsidenten-Frage liegt der Oppositionsführer deutlich vor Erdoğan.

Hinzu kommt, dass Erdoğans autokratischer Kurs und die Wirtschaftskrise in großen Teilen der Bevölkerung eine Wechselstimmung erzeugt haben. Die Inflation liegt möglicherweise bei 70 Prozent, die noch vor kurzem offiziell angegebene Zahl von 57 Prozent wird von Fachleuten angezweifelt. Millionen von Jung- und Erstwählern werden eine wichtige Rolle spielen. Es ist Erdoğan und der AKP nicht gelungen, eine „fromme junge Generation“ von Türken zu formen; die Jungen, Frauen und Männer, wollen Demokratie und Pluralismus.

Nach dem jüngsten verheerenden Erdbeben sind überdies Spekulationen aufgekommen, ob es Erdoğan und der AKP jetzt nicht so ergehen könnte wie den vor mehr als 20 Jahren regierenden Alt-Parteien, deren Versagen bei der Bewältigung der Folgen des Erdbebens von 1999 – damals starben 17 000 Menschen – den Aufstieg Erdoğans und der islamistischen „Gegenelite“ möglich machte. Damals erwiesen sich die gut organisierten Islamisten, einschließlich ihrer Bürgermeister, als effektiv. Ihre Galionsfigur war Istanbuls Oberbürgermeister Erdoğan, den die Regierenden zudem unter fadenscheinigem Vorwand – er hatte ein Gedicht des Nationalisten Ziya Gökalp zitiert – wegen angeblichen „Verstoßes gegen die laizistische Ordnung“ – durch die Justiz kaltstellen ließen.

Die heutige Lage scheint ähnlich. Die Kritik am Umgang mit den Opfern des Bebens ist schärfer geworden. Die AKP-Regierung habe die Bewältigung der Folgen monopolisiert, inländische wie ausländische Hilfsorganisationen behindert und ähnlich versagt wie die Regierenden damals. Und man wies auf die Korruption in der türkischen Bauwirtschaft hin, die lange Zeit den Kern von Erdoğans Wirtschaftspolitik ausgemacht hatte. Mangelnde Kontrolle durch die Behörden, Schlamperei und Vetternwirtschaft hätten die Zahl der Todesopfer unverhältnismäßig in die Höhe steigen lassen. Dass Erdoğan den populären oppositionellen Istanbuler Bürgermeister Ekrem Islamoğlu nun – ähnlich, wie ihm das selbst widerfahren war – durch die Justiz ins politische Abseits stellen wollte, dürfte bei vielen Wählern das Maß vollgemacht haben.

Richtig ist freilich auch, dass Erdoğan die Türkei länger geprägt hat als Atatürk, der nach 15 Jahren an der Spitze des Staates 1938 gestorben war. Erdoğan ist seit knapp 30 Jahren eine führende Figur der Türkei, Repräsentant des politischen Islam, der das Scheitern der weltlichen Parteien geschickt ausnutzte. Die waren damals im Sumpf des „Tiefen Staates“ (derin devlet) versunken, einer Mischung aus Regierungshandeln, Aktivitäten der Armee, des Geheimdienstes und der Mafia.

Als er zusammen mit Abdullah Gül 2001 die AKP (Partei der Gerechtigkeit und des Aufbaus) gründete, durchlebte das Land eine schwere Wirtschaftskrise. Die AKP war damals so klug, ein liberales Wirtschaftsprogramm zu adaptieren, das der parteilose Ökonom Kemal Derviş entwickelt hatte. Die AKP siegte bei den Wahlen 2002 überzeugend. In den Jahren nach 2000 erlebte die Türkei einen – aus heutiger Sicht einseitigen – Wirtschaftsboom, der aber den ärmeren Leuten zugutekam, vor allem in den Städten Anatoliens, wo man bald davon sprach, im Zeichen des Islams sei ein „islamischer Calvinismus“ im Entstehen. Und die AKP setzte Zeichen der Demokratisierung, die Todesstrafe wurde in Friedenszeiten abgeschafft, der übermächtige Einfluss des Militärs beschnitten, unter dem Außenminister Ahmet Davutoğlu verfolgte Erdoğan eine Politik der „Strategischen Tiefe“, eine Hinwendung zu den muslimisch geprägten arabischen Nachbarn. Zwar scheiterte diese „neo-osmanische“ Ausrichtung, doch diskutierten – am Vorabend der „Arabellion“ – arabische Intellektuelle in Damaskus und Kairo über das „Modell AKP“.

Spätestens seit 2012 war dann zu beobachten, wie die AKP ihre Macht zementierte und dass Erdoğan immer selbstherrlicher wurde. 2013 ließ er Demonstrationen gegen ein Bauprojekt im beliebten Istanbuler Gezi-Park mit Gewalt niederschlagen – ein Wendepunkt. Immer öfter nannten ihn viele den „Sultan“. Erdoğan überwarf sich mit der religiösen Gülen-Bewegung, die den Islam durch Erziehung und Bildung, nicht durch Repression über das „Religionsministerium“ festigen wollte. Zunehmende Schikanen gegenüber der Presse führten dazu, dass von einer freien Berichterstattung oder gar Kommentierung im Land nicht mehr die Rede sein kann. Über eine abhängige Justiz wurden bekannte Journalisten wie Can Dündar oder der Deutsch-Türke Deniz Yücel und etliche andere unter Vorwänden – sie unterstützten die kurdische Terrororganisation PKK – verurteilt. Die kurdische Region im Norden Syriens wird heute – Resultat auch der ungelösten Kurdenfrage – von der türkischen Armee kontrolliert.

Ein gescheiterter Putsch von Teilen der Luftwaffe im Jahre 2016, von dem der Geheimdienst offenbar früh Wind bekam, lieferte Erdoğan weitere Vorwände, um die Schraube der Einschüchterung von Journalisten und Schriftstellern, wie Aslı Erdoğan, weiter anzuziehen. Flüchtlinge und die ungelöste Kurden-PKK-Frage dienen Erdoğan dazu, die EU und die Nato in Schwierigkeiten zu bringen. Dass die Wähler es der Regierungspartei und dem Präsidenten anrechnen werden, dass die Türkei mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als andere, ist angesichts der sich häufenden Probleme kaum zu erwarten. Das gilt auch für die durchaus akzeptable Rolle, die Erdoğan im Krieg zwischen der Ukraine und Russland als Moderator zu spielen versucht. Die schlechte Wirtschaftslage und die fortgeschrittene Repression – Oppositionelle sprechen offen vom „Palast“, wenn sie Erdoğan meinen – werden diese Wahl prägen wie kaum ein anderes Thema.

Sollte Erdogan fallen, stünde die Türkei noch immer vor den genannten Problemen, doch eine Rückkehr zu Demokratie, Pressefreiheit und Pluralismus wäre wohl sicher. Auch das Verhältnis zu EU und Nato würde sich entkrampfen.

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