Bedingt reaktionsbereit

Die Aufgaben, vor denen die neue Verteidigungsministerin steht, könnten kaum größer und komplexer sein

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PICTURE ALLIANCE/REUTERS | INTS KALNINS
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht
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PICTURE ALLIANCE/REUTERS | INTS KALNINS
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht

Bedingt reaktionsbereit

Die Aufgaben, vor denen die neue Verteidigungsministerin steht, könnten kaum größer und komplexer sein

Es ist eine gute Tradition in der Politik, jeder neuen Regierung hundert Tage im Amt zuzugestehen, bevor man ihr Handeln bewertet. Das Problem ist aber, dass die Welt selten einer neuen Regierung hundert Tage Zeit gibt, um die Leitlinien ihres Handelns auszuarbeiten. Dies ist insbesondere in der internationalen Politik der Fall.

Die am 8. Dezember 2021 im Amt vereidigte neue Regierung aus SPD, FDP und Grünen wird quasi von Stunde null an mit massiven Herausforderungen für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik konfrontiert, die es zu bewältigen gilt. Da ist zuvorderst der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine zu nennen, bei dem bislang unklar ist, ob er nur eine Drohgebärde oder das Präludium zu einer Invasion ist. Gleichzeitig versucht der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko, die EU mit der Migrationswaffe zu erpressen. Und als ob dies alleine noch nicht genug wäre, zeichnet sich in den vergangenen Tagen immer stärker ein chinesisch-russisches Bündnis ab, dessen Ziel nicht weniger als die Veränderung der Spielregeln der internationalen Politik ist. Und hier reden wir erst gar nicht darüber, dass China Taiwan mittlerweile unverhohlen mit einer militärischen Invasion droht, um die aus chinesischer Sicht abtrünnige Provinz ins Mutterland zurückzuführen.

Auch sind die Erwartungen europäischer Partner und des amerikanischen Verbündeten an die neue deutsche Regierung groß. Dass Deutschland sich auch weiterhin dazu bekennen sollte, mittelfristig 2 Prozent seines Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgeben zu wollen (die gegenwärtige Quote liegt bei ca. 1,5 Prozent), und vor allem an der nuklearen Teilhabe festhalten soll.

Kurzum: Das internationale System ist unter Stress, und der neu ins Amt gekommenen Regierung um Bundeskanzler Olaf Scholz bleibt noch nicht einmal der sprichwörtliche Wimpernschlag, um deutsche Antworten auf all diese Fragen zu finden.

Im Zentrum der deutschen Antworten auf diese zum Teil militärischen Herausforderungen steht die Bundeswehr. Eine Armee, die in den vergangenen Jahrzehnten eine massive Transformation durchlaufen hat. Von einer auf Landes- und Bündnisverteidigung fokussierten Streitmacht, die für einen hypothetischen Fall trainiert hat, der Gott sei Dank nie eingetreten ist, hin zu einer Interventionsarmee, die in Afghanistan und Mali tätig war (und noch ist), wieder zurück zu einer primär auf Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichteten Truppe.





Als ob dies nicht allein schon eine Herkulesaufgabe wäre, kommt noch hinzu, dass die Bundeswehr seit März 2020 immer stärker in die Amtshilfe zur Corona-Bekämpfung eingebunden ist und auch weiterhin sein wird. Sei es, dass Soldaten in Gesundheitsämtern Kontaktnachverfolgung betreiben, Impfzentren betreiben oder Ärztinnen und Sanitäter des Sanitätsdienstes in Krankenhäusern dafür Sorge tragen, dass der normale Betrieb aufrechterhalten werden kann.

All dies geht aber zu Lasten der internationalen Verpflichtungen, die die Bundeswehr eingegangen ist. So vermeldet das Heer bereits heute eine Verzögerung des Ausbildungsstandes von ca. einem halben Jahr. Dazu könnte es sein, dass Teile der deutschen Kräfte für die Nato Response Force (schnelle Eingreiftruppe der Nato) nicht im vollen Umfang zertifiziert werden können. Und je länger die Amtshilfe dauern wird, desto größer wird der Verzug werden.

In diesem Spagat zwischen Amtshilfe und internationalen Verpflichtungen sind all die anderen Probleme, wie Beschaffungsprobleme, rechtsextremistische Tendenzen bei Soldatinnen und Soldaten und voraussichtlich fehlendes Geld für die Verteidigungshaushalte der nächsten Jahre, noch gar nicht erwähnt.

Es ist somit eine Herkulesaufgabe, die auf die neue Verteidigungs­ministerin Christine Lambrecht zukommt. Sie muss, bei wahrscheinlich sinkenden Verteidigungshaushalten, die Truppe fit für ihre internationalen Verpflichtungen machen und zugleich dafür Sorge tragen, dass die Amtshilfe, die die Bundeswehr leistet, auf das Maß beschränkt wird, dass darüber die Kernaufgabe deutscher Streitkräfte nicht über Gebühr leidet. Darüber hinaus muss sie das Beschaffungssystem dergestalt reformieren, dass das alte Prinzip deutscher Rüstung „Es dauert alles doppelt so lange und kostet am Ende doppelt so viel“ endgültig durchbrochen wird.

In den ersten offiziellen Verlautbarungen Lambrechts ist von der Komplexität der vor ihr stehenden Aufgaben nicht viel zu hören. Die Ministerin betonte vielmehr, dass sie sich um die Soldaten und Soldatinnen kümmern will, Corona und Fluthilfe als eine wichtige Aufgabe ansieht und Exitstrategien für die Auslandseinsätze ausarbeiten lassen will. Alles sicherlich wichtige Aspekte ihres zukünftigen Tätigkeitsfeldes, aber ob diese oberste Priorität haben, sei dahingestellt.

Für die meisten Expertinnen war die Nominierung der ehemaligen Justizministerin als Verteidigungsministerin eine – gelinde gesagt – große Überraschung. Sie fiel bislang nicht durch ein sonderliches Interesse am Thema Verteidigung auf. Aber – und dies mag ihr in dem neuen Amt zugutekommen – sie hat bewiesen, dass sie Ministerien führen kann. Und möglicherweise ist es gerade diese Erfahrung, die sie ins Verteidigungsministerium gebracht hat. Denn es gibt kaum ein Ministerium der Bundesregierung, das als so schwer zu führen und zu managen gilt, wie das Verteidigungsministerium.

Neben der Fähigkeit als Managerin muss sie aber schnell Antworten auf die drängenden Fragen deutscher Sicherheitspolitik geben. Denn so gern die Öffentlichkeit ihr hundert Tage im Amt geben mag, die Welt wird darauf nicht warten.

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