Beiträge rauf!

Nach 16 Jahren Merkel stehen die Zeichen auf Veränderung in der deutschen Außen- und Europapolitik

18
09
IMAGO/THOMAS EISENHUTH
18
09
IMAGO/THOMAS EISENHUTH

Beiträge rauf!

Nach 16 Jahren Merkel stehen die Zeichen auf Veränderung in der deutschen Außen- und Europapolitik

Während Bundesaußenminister Heiko Maas gerade die traurigen Reste der deutschen Afghanistan-Politik abwickelt, ist trotz heißer Wahlkampfzeit eines wenig diskutiert, aber weithin unumstritten: Nach dem Ende der Merkel-Ära braucht Deutschland eine neue Außen- und Europapolitik.

Bei aller Anerkennung der Leistungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel als Europas oberster Krisenmanagerin (und die Liste ist lang: von Staatschulden-, Euro- und Krim-Annexions-Krise bis zur Flüchtlings- und Coronavirus-Krise, nicht zu vergessen die Trump-Präsidentschaft) – ab diesem Herbst wird es um weit mehr gehen als das Drehen an den berühmten Stellschrauben. Deutschland braucht die außenpolitische Sprunginnovation.

Nicht nur hat sich die seltsame Arbeitsteilung der Merkel-Zeit überlebt, bei der ein meist SPD-geführtes Auswärtiges Amt per „Stärkung des Multilateralismus“ die Welt retten wollte (somit Mittel über Zwecke stellte) und die Kanzlerin ihre Sonderbeziehungen vor allem nach Peking und Moskau pflegte. Auch die von Francis Fukuyama inspirierte Grundannahme, man stünde in Deutschland, wenn auch mit etwas Glück, endlich auf der richtigen Seite der Weltgeschichte, weshalb sich die meisten Probleme nunmehr mit Zuwarten lösen ließen, hat sich verflüchtigt.

Weltpolitisch vollzieht sich nach langer Ansage nun der pivot to Asia tatsächlich; Europa und der euro-transatlantische Raum rücken aus dem Zentrum des Weltgeschehens. In Asien beziehungsweise der nunmehr „Indo-Pazifik“ genannten Region bildet sich das neue Kraft- und Konfliktzentrum. Zugleich sind liberale Demokratie und freie Gesellschaftsordnung bedrohter als je zuvor seit dem Fall der Berliner Mauer. Zudem droht die weiterhin ungebremste Klimakrise, der Menschheit die Lebensgrundlagen zu entziehen. Vor diesem Hintergrund ein Weiter so? Wohl kaum.

1. Europa handlungsfähig machen

Das deutsche Verlangen, stets alle 27 (bis 2019: 28) EU-Mitglieder „mitzunehmen“, hat die Zentrifugalkräfte innerhalb der EU eher verstärkt denn geschwächt. Die EU muss ihre Grundsätze nun durchsetzen – und das geht nur mit klarer deutscher Führung. Dies muss einhergehen mit einem Mehr an deutschen Investitionen in Europas Zukunft, politisch wie finanziell. Denn das erstmals per gemeinsamer Schuldenaufnahme finanzierte wirtschaftliche Wiederaufbauprogramm „NextGenerationEU“ wäre verschenkt, wenn es im Laufe dieses Jahrzehnts nicht auch um einen politischen Quantensprung erweitert würde, der sich sowohl nach innen wie nach außen richten und für Europäerinnen und Europäer greifbar sein muss.

Dazu gehören Schritte, wie zum Beispiel von Frankreich gewünscht, zur „Vollendung“ der Währungsunion, etwa durch perspektivisch gemeinsame Schuldenaufnahme („Eurobonds“) unter der Maßgabe, dass diese vor allem der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU dient. Nicht alles wird mit allen 27 Mitgliedern gehen, ein Agieren in kleinen Untergruppen und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten wird die Regel werden. Dort wird sich Berlins Rolle am stärksten ändern: weniger ausgleichender Vermittler, mehr ambitionierter Avantgardist.

Wenn die EU weltpolitisch mitspielen will, braucht sie unter anderem einen Euro, der zur Reservewährung taugt; eine europäische Industriepolitik, die den Kontinent von der Halbleiter- bis zur Batterieproduktion unabhängiger macht; und noch vor allem einen „Hohen Repräsentanten für Klimapolitik“, also eine Art EU-Klimaaußenminister oder -ministerin, um Europas Beitrag zur Abmilderung der Klimakatstrophe zu koordinieren und gegenüber den Vereinigten Staaten und China zu vertreten.

Dazu muss sich deutsche Politik in bisher nicht gekanntem Maße europäisieren, sowohl in dem Sinne, dass sie den Ausbau von EU-Strukturen fördert – zum Beispiel den Europäischen Auswärtigen Dienst (mit dem bislang kaum jemand gern zu tun hat, fragen Sie das amerikanische State Department!) – als auch dergestalt, dass Deutschland für und im Auftrag der EU handelt. Solche Schritte zu dem zuerst von Emmanuel Macron formulierten Ziel europäischer Souveränität würden idealer Weise von Paris als Vorleistung und Ansporn gesehen, französische Fähigkeiten ebenfalls stärker in die EU einzubringen, bis hin zum UN-Sicherheitsratssitz und der force de frappe.

2. Transatlantische Bindung stärken

Ohne die Vereinigten Staaten kann Europa keinen Flughafen in Afghanistan schützen, geschweige denn die Sicherheit des eigenen Kontinents garantieren –schon deshalb bleibt der engstmögliche Schulterschluss mit Washington unverzichtbar.

Diese für Deutschland und Europa zentrale Beziehung ist kein Selbstläufer, sondern bedarf der Pflege ebenso wie der politischen Angebote. Das ist in Berlin spätestens während der Trump-Zeit so stark in Vergessenheit geraten, dass man auf Joe Bidens Präsidentschaft, womöglich der letzte „echte“ Transatlantiker im Weißen Haus, bislang viel zu verhalten reagiert hat.

Das muss sich ändern. Der Teil der US-Politik, der Europa (noch) wohlgesonnen ist, braucht Argumente, warum sich das Bündnis für Amerika weiter „lohnt“. Dazu gehören fähigere Streitkräfte und eine europäische „Säule“ der Nato, die diesen Namen auch verdient. Jenseits der Sicherheitspolitik ist dazu zwischen der EU und den Vereinigten Staaten bereits manches aufgesetzt, so der Handels- und Technologierat (TTC), der bei Digitalisierung und Zukunftstechnologien schnell gemeinsame Standards setzen sollte. Und gerade weil die Amerikaner sich stärker Asien zuwenden und tradierte transatlantische Bande schwächer werden, bedarf das Verhältnis noch mehr deutscher Impulse und Initiativen, selbst wenn Trump oder ein „Trumpscher“ US-Präsident erneut ins Weiße Haus einzöge.

3. Resilienter Realismus: China und Russland

Not tut schließlich auch eine grundlegende Neuaufstellung der Beziehungen zu China und Russland. Einiges wäre bereits durch konsequente Europäisierung erreicht. Dann hätte sich ein gigantisches geopolitisches Eigentor wie die Erdgas-Pipeline North Stream 2 gar nicht fabrizieren lassen – und die nächste Regierung mag noch effektivere Wege finden, deren großen Schaden einzudämmen, als Merkel zuletzt dazu willens oder in der Lage war.

Die „systemische“ Herausforderung, die vor allem von Chinas Ein-Parteien-Diktatur ausgeht, aber eben auch von Wladimir Putins Kleptokraten-Herrschaft mit ihrem Dauerangriff auf die liberale Demokratie, wurde in der Merkel-Zeit lange unterschätzt. Eine grundlegende Neubewertung dürfte zu dem Schluss kommen, dass sich Moskauer Druckpolitik nur mit resilientem Realismus begegnen lässt, zumindest so lange Putin im Amt ist – einer nüchternen Realpolitik also, die sich zugleich stärker gegen Putinsche Korruption, Untergrabung und geoökonomischer Erpressung schützt, wie sie sich im Fall von North Stream 2 bereits abzeichnet.

Auch die Überzeugung, Deutschland sei wirtschaftlich von China abhängig und müsse gegenüber Peking stets mit gebührlicher Zurückhaltung agieren (und nicht etwa von chinesischen „Wolfskrieger-Diplomaten“ in die Mangel genommenen Bündnispartnern von Kanada bis Litauen beistehen), dürfte einer Überprüfung kaum standhalten.

Peking hat Handelsbeziehungen stets nur zu den eigenen Bedingungen akzeptiert; vieles deutet darauf hin, dass sich Xi Jinpings Reich in Zukunft noch stärker abschottet. Menschenrechte und international bindende Zusagen wie im Fall Hongkongs werden dem totalitären Machtanspruch der KP und ihres Anführers untergeordnet. Aus deutscher Sicht stünde dem als Ziel eine China-Politik gegenüber, die das weltpolitische Ereignis einer aufstrebenden Supermacht in Asien nicht schicksalsergeben begleitet, sondern auf europäischer Ebene eigene Antworten findet – auch durch eine viel stärkere Beschäftigung mit Land und Region sowie den Aufbau größerer lokal angesiedelter Expertise, auch dies im europäischen Verbund.

„Ich sehe die Europäische Union als unsere Lebensversicherung“, sagte Angela Merkel im Interview mit der Financial Times Anfang 2020, kurz bevor die Pandemie der EU die nächste Zerreißprobe bescherte. Es wird Zeit, die eigenen Beiträge zu dieser Lebensversicherung ordentlich aufzustocken. Dazu ist Mut und großer politischer Wille notwendig. Man kann ihn der nächsten Bundesregierung nur von Herzen wünschen.

Weitere Artikel dieser Ausgabe