Bereithalten für den Tag X

Herausforderer Joe Biden liegt klar vorn, aber US-Präsident Donald Trump droht bereits, auch bei einer Niederlage das Feld nicht zu räumen

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SHUTTERSTOCK.DE/OLESKALASHNIK
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Herausforderer Joe Biden liegt klar vorn, aber US-Präsident Donald Trump droht bereits, auch bei einer Niederlage das Feld nicht zu räumen

„Would you shut up, man?“ Wohl mit keinem anderen Satz hat US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden beim ersten TV-Duell gegen Amtsinhaber Donald Trump einer überragenden Mehrheit der Menschheit – und wohl auch einer Mehrheit von Amerikanerinnen und Amerikanern – aus dem Herzen gesprochen als mit der Aufforderung an seinen Kontrahenten, doch endlich mal den Mund zu halten. Doch genau das ist das Problem. Trump, auch wenn er sich nun mit dem Coronavirus infiziert hat, wird den Mund nicht halten. Er wird es selbst dann nicht tun, wenn er am 3. November klar abgewählt werden würde.

Einen Monat vor der Wahl, die für die USA und den Rest der Welt gleichermaßen schicksalshaft erscheint, liegt Biden laut Umfragen klar vor Trump, und das über Wochen ungleich konstanter, als es vor vier Jahren bei Hillary Clinton der Fall war. Dass Biden die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten wird, dafür stehen die Chancen wohl bei annähernd 100 Prozent.

Was eine Mehrheit im ausschlaggebenden „Wahlmännergremium“ angeht, so sieht es damit schon etwas anders aus. Sollte Biden die rust belt-Staaten des Mittleren Westens zurückgewinnen, die Clinton 2016 denkbar knapp an Trump verlor, könnte Barack Obamas früherer Vizepräsident durchatmen. Dann wäre der Weg frei zu einer deutlichen Mehrheit im electoral college, die seinen Wahlsieg unumstritten machen würde. Die Chancen, dass es so kommt, stehen ganz gut, sagen wir: 75 Prozent.

Worauf Trump aber mit aller Macht zusteuert, nämlich auf einen umstrittenen, unklaren, womöglich chaotischen Wahlausgang, in den der dem Präsidenten ergebene Justizminister William Barr, die Bundesstaaten-Gouverneure oder am Ende sogar der Oberste Gerichtshof eingreifen – für einen solchen Ausgang stehen die Chancen wohl bei 50 Prozent. Das ist viel und muss jeden beunruhigen, der Demokratie, Rechtstaatlichkeit, ja die westliche Welt, wie wir sie kennen, nicht untergehen sehen will. Denn bei einer zweiten Trump-Amtszeit würde beispielsweise von der Nato nicht viel übrigbleiben.

Trump hat kein Regierungsprogramm; er hatte schon vor vier Jahren keines. Er bietet nur sich selbst an: Trump, den angeblichen Milliardär mit den vermeintlich starken Sprüchen; Trump, den Tabubrecher und Scharfmacher gegen „die da oben“ beziehungsweise „die liberale Elite“, der in der Debatte mit Biden nicht davor zurückscheute, einer rassistischen Bürgerwehr das Kommando zu erteilen, „sich bereitzuhalten“ für den Tag X. Trump will keine neuen Wähler hinzugewinnen, allenfalls seine ihm treu ergebene Basis motivieren, zugleich die Wähler der Demokraten demotivieren oder schlicht daran hindern, an der Wahl teilzunehmen.

Dass Trump sich bislang weigerte zu erklären, eine Wahlniederlage, so sie denn käme, anzuerkennen, ist Teil der Strategie. Schon bei seinem Sieg 2016 sprach Trump unentwegt, ja geradezu zwanghaft von Wahlfälschung. Dass Clinton drei Millionen Stimmen mehr für sich gewinnen hatte können als er, das war in der Trump’schen Vorstellungswelt nicht hinnehmbar. Auch im Vorlauf der 2020er-Wahl hat Trump bislang alles in seiner Macht Stehende getan, einschließlich der versuchten Sabotage der US-Post, um einer Flut der Anfechtungen und Anschuldigungen den Boden zu bereiten.

Gewisse Eigenheiten einer US-Präsidentschaftswahl könnten Trump dabei in die Hände spielen. Da Anhänger der Demokraten viel stärker von der Briefwahl Gebrauch machen als die der Republikaner, kommt es meist erst am frühen Morgen zur blue wave, zur (nach der Parteifarbe der Demokraten benannten) blauen Welle der Briefwahlstimmen, die oft später ausgezählt werden als die am Wahltag abgegebenen. In solchen Situationen könnte sich Trump schon früh in der Nacht in diesem oder jenem Bundesstaat zum Sieger erklären und die Rechtmäßigkeit der später addierten Briefwahlstimmen anzweifeln. Und viele weitere Wege wären denkbar, wie Trump eine contested election herbeireden könnte, in der sich die gespaltene US-Nation noch unversöhnlicher gegenüberstünde und der Amtsinhaber am Ende aufgrund einer Formsache zum Sieger erklärt werden würde.

Und wenn Trump verlieren würde, wäre das längst nicht sein Ende. Schon 2016 ging es neben kostenloser Werbung für sein offenbar kurz vor dem Bankrott stehendes Trump-Universum aus Hotels, Spielkasinos und Golfplätzen eigentlich darum, knapp zu verlieren und dann seine aktuell 84,6 Millionen zählende Twitter-Gefolgschaft zu Geld machen. Der im Mai 2017 verstorbene Roger Ailes, einstiger republikanischer Präsidentenberater und 20 Jahre lang dunkles TV-Genie hinter dem rechtslastigen US-Nachrichtensender Fox News, hatte mit Trump schon Pläne für einen zu gründenden Trump-News-Kanal geschmiedet.

So würde auch ein Biden unterlegener Trump weitermachen: Wie das Geschäftsmodell von Facebook besteht das von Trump im Erzeugen eines Sogs der permanenten Wortmeldung, der unentwegten Verbindung mit den „Followern“, angetrieben von Hass und Empörung. Trump-„Nachrichten“, Trump-Wahlkampfveranstaltung im ganzen Land, Trump-Initiativen, die einem Präsidenten Biden das Leben schwer machen würden – darauf dürften sich Amerika und der Rest der Welt einzustellen haben. Denn Trump braucht nicht nur ständige Aufmerksamkeit, sondern seinen von der New York Times veröffentlichten Steuererklärungen zufolge in kurzer Zeit dreistellige Millionenbeträge, um seine vielen Schulden zu begleichen.

Von der Republikanischen Partei ist wenig Gegenwehr zu erwarten. Der weitgehend virtuell abgehaltene Nominierungsparteitag, bei dem praktisch nur die Trump-Familie zu Wort kam, zeigt an, wohin die Reise geht: zu einem Personenkult, der der amerikanischen Demokratie bisher fremd war. Nein, Donald Trump wird nicht den Mund halten, was immer auch am und nach dem 3. November geschieht. Leider.

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