Berlin – Nacht & Tag

Der zwischenmenschliche Respekt in Deutschland schwindet. Wo bleibt die Begeisterung für demokratische Werte?

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PICTURE ALLIANCE/GLOBAL TRAVEL IMAGES
Auch das kann Neukölln sein: Gelassene Gemeinsamkeit auf dem Tempelhofer Feld in Berlin-Neukölln
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Auch das kann Neukölln sein: Gelassene Gemeinsamkeit auf dem Tempelhofer Feld in Berlin-Neukölln

Berlin – Nacht & Tag

Der zwischenmenschliche Respekt in Deutschland schwindet. Wo bleibt die Begeisterung für demokratische Werte?

Es waren unglaubliche Szenen, die sich in der Silvesternacht 2022 in Berlin, in Hannover, in Essen abspielten. Gezielte Angriffe auf Feuerwehr und Polizei mit Feuerwerkskörpern, besonders im Berliner Stadtteil Neukölln enthemmtes gewalttätiges Verhalten Jugendlicher – viele von ihnen mit Migrationshintergrund.

Es waren unglaubliche Szenen, die sich in der Silvesternacht 2015 auf der Kölner Domplatte abspielten, auch dort die Stimmung enthemmt. Raketen wurden auf Menschen gefeuert, Passanten schikaniert, es gab sexuelle Übergriffe, Menschen wurden bestohlen. Die Täter kamen überwiegend aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum.

Die Bestürzung war jeweils groß, harte Bestrafung der Täter wurde gefordert, die Integrationspolitik auch Anfang 2023 erneut in Frage gestellt, ja sogar für gescheitert erklärt. Im Fokus steht in diesen Tagen vor allem die Hauptstadt mit ihrem vermeintlichen Vorzeige-Integrationsstadtteil Neukölln. Die Politik in Berlin ist wie immer bestürzt und fordert als erstes ein Böllerverbot – ein Ablenkungs­manöver vom jahrelangen Versagen in der Integrationspolitik, nicht nur auf lokaler Ebene in Berlin, sondern auch auf Ebene der Bundespolitik.

Die Fehler wurden allerdings lange vor der Flüchtlingswelle von 2015 begangen. Als mein Kollege Joachim Wagner 2011 sein Buch „Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat“ über libanesische Clan-Friedensrichter veröffentlichte, war das politische Interesse eher gering an der Tatsache, dass eingeflogene sogenannte „Friedensrichter“ in Berlin arabische Clan-Streitigkeiten vollkommen unabhängig von der deutschen Justiz in Hinterzimmern schlichteten, die Justiz oft nur zuschauen konnte und Anklagen fallen lassen musste. Es passte nicht in das politische Konzept einer eher beschönigenden Integrationspolitik.

Die Clans wurden stärker und stärker, sie übten in „ihren“ Vierteln Druck auf die Mitbewohner aus, sie wurden für einen Teil der arabischen Jugendlichen mit ihren Taten zu Vorbildern. Der Remmo-Clan ist das beste Beispiel. Die Clans hatten zudem leichtes Spiel, denn viele Migranten – ob Erwachsene oder Jugendliche – fühlten sich vom deutschen Staat, von der Gesellschaft im Stich gelassen, unerwünscht. Sie verloren den Respekt vor der staatlichen Organisation, vor demokratischen Gepflogenheiten.

Und wie verhielten sich die politischen Kräfte und die sie tragende bürgerliche Gesellschaft in der Hauptstadt? Beide fanden, Neukölln sei ein exotischer Stadtteil, irgendwie interessant und gut für den Tourismus, aber mehr auch nicht. Integrationsbemühungen fanden nicht in dem Maße statt, wie es wahrscheinlich notwendig gewesen wäre. Warnungen wurden nicht beachtet. In dieser Situation hat Deutschland viele jüngere Migranten für eine demokratische Gesellschaft verloren. Erst die Flüchtlingswelle 2015 hat die Gesellschaft aufgeschreckt und in den vergangenen Jahren dann die Erkenntnis befördert, dass ohne ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger der deutsche Wohlstand auf Dauer gefährdet sei.

Hat es also auch an Respekt der Gesamtgesellschaft vor großen Teilen der ausländischen Mitbürger gefehlt? Diese Frage sollten wir uns ehrlich stellen, vielleicht sogar noch weiter gefasst zu der Frage, wie es überhaupt mit dem Respekt in unserer Gesellschaft heute bestellt ist, dem Respekt mit- und füreinander und auch und gerade dem Respekt vor der Demokratie. Das ist nicht nur ein Problem der Integration.

Man braucht sich nur auf die Straße begeben, um zu erleben, wie es mit dem Respekt aussieht. Fußgänger gehen bei Rot über die Straße, Autofahrer fahren im letzten Moment bei Rot über die Kreuzung, Geschwindigkeitsbegrenzungen werden missachtet, Radfahrer benutzen nicht immer die Radwege, sondern gerne auch die Fußgängerwege, und die E-Roller-Fans missachten häufig alle Verkehrsregeln. Respekt im deutschen Straßenverkehr geht mehr und mehr verloren – dies nur als ein Beispiel, aber es ist ein deutliches Zeichen, dass der Respekt vor dem Zusammenleben und der Rücksichtnahme, der Respekt vor dem Recht, vor den Gerichten in diesem Land besorgniserregend schwindet. Dort müssen die Politik und die Gesellschaft als Ganzes durch gezielte Maßnahmen in alle Gesellschaftsschichten hinein gegensteuern, durch Investitionen vor allem in die Justiz, in Bildung, in Beratung, in soziale Unterstützung mit klaren Kontrollmechanismen und vor allem in das Begeistern für demokratische Werte.

Gerade die Begeisterung für demokratische Werte ist in den vergangenen Jahren in diesem Land zurückgegangen, besonders im Osten der Republik, wie die Umfragen zeigen. Diese Entwicklung muss gestoppt werden.

Ein großer Teil unserer Gesellschaft muss wieder mehr Respekt vor unseren Mitmenschen, vor anderen Meinungen als der eigenen, vor dem Miteinander mit all den Werten, aber auch Regeln bekommen. Twitter-Hetze, gesteuert von ausländische Troll-Fabriken oder auch von Partei-Organisationen, darf nicht der Boden für gesellschaftliche Auseinandersetzungen sein. Respekt vor der Sprache ist angesagt, auch bei Politikern und Politikerinnen, in Talkshows und auf Parteitagen.

Streit in fairem Rahmen über Inhalte und politische Entscheidungen muss sein, er ist das besondere und einzigartige Merkmal der Demokratie. Das mag eine Plattitüde sein, aber manchmal hat es den Anschein, als hätten einige politische Köpfe in diesem Land diesen Wert vergessen, indem sie sich nicht von rechts- wie linksradikalen Gruppierungen distanzieren oder, wie der bayrische CSU-Ministerpräsident samt seiner Partei, bewusst Bashing eines anderen Bundeslandes betreiben, nur um Stimmen für die eigene Wiederwahl zu gewinnen. Das ist ein gefährliches Spiel mit dem Föderalismus, das den Respekt der Bevölkerung vor einer föderalen Demokratie gefährden könnte, und es ist unglaubwürdig, wenn man im eigenen Bundesland Probleme mit rechtsradikalen Kräften hat.

Wohin unbarmherzige politische Gegnerschaft, Hass, Hetze, Lüge – verbreitet auch besonders durch soziale Medien – führen kann, das zeigen gerade die Beispiele USA und Brasilien. Es ist nicht nur der Gegensatz Arm und Reich, es ist in beiden Ländern auch eine Spaltung der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Probleme, vor denen Deutschland 2023 zusammen mit der Weltgemeinschaft steht, sind riesig. Klimakrise, Energiekrise, der Ukraine-Krieg mit noch nicht absehbaren gefährlichen Entwicklungen sind nur zu bewältigen, wenn in unsere gesamte Gesellschaft wieder das zurückkehrt, was zur Krisenbewältigung und Zukunftssicherung unerlässlich ist: Respekt.

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