Brüssel, wir haben ein Problem

Ursula von der Leyen zwischen Coronakrise und Mondmissionen. Eine aktuelle Bilanz

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PICTURE ALLIANCE/XINHUA NEWS AGENCY | EUROPEAN UNION
Mrs. Europa – Ursula von der Leyen
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Mrs. Europa – Ursula von der Leyen

Brüssel, wir haben ein Problem

Ursula von der Leyen zwischen Coronakrise und Mondmissionen. Eine aktuelle Bilanz

Ursula von der Leyen erlebt ihre erste große Krise als EU-Kommissionspräsidentin. In Brüssel regiert sie, wie man es aus Berlin gewohnt ist – mit großen Versprechen und kleinem Beraterstab. Doch in Europa funktioniert das nicht so gut wie in Deutschland; Erfolge lassen auf sich warten.

Sie hat große Erwartungen geweckt. Europa werde einen „Mann-im-Mond-Moment“ erleben, versprach Ursula von der Leyen gleich nach ihrem Amtsantritt als Präsidentin der Europäischen Kommission im Dezember 2019. Ihren „Green Deal“ für das Klima verglich sie mit der Apollo-Mission.

Ein Jahr später wurde es noch grandioser. Die Impfstrategie gegen Corona, die sie gemeinsam mit Kanzlerin Angela Merkel ausgearbeitet hatte, sollte nicht nur die Europäer schützen. Nein, von der Leyen versprach Hilfe für die ganze Welt; der Impfstoff sei für alle da.

„Dies ist Europas Moment“, rief die CDU-Politikerin kurz vor Weihnachten aus, als das erste Vakzin in der EU zugelassen wurde. Dass der Impfstoff von Biontech kam, also aus Deutschland, machte sie besonders stolz. Die Europäer würden mutig vorangehen und zeigen, wie man das Virus besiegt, so die frohe Botschaft aus Brüssel.

Doch die großen Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Bei der Corona-Impfung hat die EU eine Bruchlandung hingelegt. Nachdem Europa 2020 zum Epizentrum der Pandemie geworden war, droht es nun den Wettlauf um den Impfstoff zu verlieren. Das Debakel erinnert an Apollo 13 – Rücksturz auf den harten Boden der Tatsachen.

Doch anders als vor einem Jahr, als sich die 27 Staats- und Regierungschefs der Union gegenseitig die Schuld zuschoben, ist der Schwarze Peter diesmal in Brüssel gelandet. „Wir haben in den Abgrund geschaut“, rief von der Leyen damals warnend aus. Nun steht sie selbst mit dem Rücken zur Wand – und muss sich rechtfertigen.

Die Attacken kommen aus Berlin und München, wo sich Olaf Scholz und Markus Söder für den Wahlkampf warmlaufen. Sie kommen aber auch aus Luxemburg und Paris, wo sich zwei prominente frühere EU-Politiker – Jean-Claude Juncker und Michel Barnier – von der deutschen EU-Präsidentin distanziert haben.

Sogar in der Kommission brodelt es. Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides ist es leid, den Kopf für ihre Chefin hinzuhalten. Und Handelskommissar Valdis Dombrovskis lehnt es ab, Verantwortung für all die Pannen zu übernehmen, die der EU-Behörde im Streit um den britischen Pharmakonzern AstraZeneca unterlaufen sind.

Doch statt sich vor ihr „Team Europa“ zu stellen, tauchte von der Leyen erst einmal ab. Dies weckt Zweifel an ihren Führungsqualitäten. Sie sei eine Schönwetter-Politikerin, die sich bloß auf Ankündigungen verstehe, glauben sogar Parteifreunde wie der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke. An ihrem Berliner Politikstil habe sich nichts geändert.

Dabei ist die 61-Jährige Attacken gewöhnt. Als Verteidigungsministerin hat sie gelernt, sich selbst zu verteidigen. Die Berateraffäre hat sie – abgesehen von kleineren Blessuren – unbeschadet überstanden. Bei ihrem Start in Brüssel heuerte sie eine PR-Agentur an, die für ein neues, frisches Image in den sozialen Medien sorgte.

Bei Twitter bringt sie es auf 532 000 Follower – davon können andere nur träumen. Ihre Vizepräsidenten und Rivalen Frans Timmermans und Margrethe Vestager – beide wollten selbst Kommissionschefs werden – überstrahlt sie mit professionell gemachten Videoclips, die in der Chefetage der EU-Kommission produziert werden.

Sobald es einen Erfolg zu verkünden gilt, stellt sich die Chefin lächelnd vor die blaue Europafahne und preist das Erreichte. Ganz allein, als sei es nur ihr Erfolg. Gelegentlich gibt sie auch praktische Ratschläge. Ein Clip, in dem sie hygienisch korrektes Händewaschen in Coronazeiten vorführt, wurde sogar zum Youtube-Hit.

Doch im wirklichen Leben ist von der Leyen kaum präsent. Das liegt nicht nur an Corona, sondern auch an ihrer Dienstwohnung, die sie sich im 13. Stock des Berlaymont – dem Kommissionsgebäude – einrichten ließ. Nur beim Joggen kommt sie mal raus und sieht „ihr“ Brüssel – die Stadt, in der sie geboren ist und der sie sich verbunden fühlt.

In Gedanken ist sie aber noch in Berlin – und in Paris. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sie ihren Job in Brüssel zu verdanken, mit Merkel stimmt sie sich mehr denn je ab. Den Ruf, „Macrons Geschöpf“ und „Merkels Gehilfin“ zu sein, hat sie bis heute nicht abgelegt. Immerhin verschafft ihr das politischen Rückhalt in Krisen wie dieser. Merkel und Macron stützen sie.

Verlassen kann sie sich auch auf ihre deutschen Berater Jens Flosdorff und Björn Seibert, die sie aus Berlin mitgebracht hat. Die Kommunikation läuft über Flosdorff, die Strategie kommt von Seibert. „Ich bin wie der Schrittmacher einer Radrenn-Equipe“, sagt ihr Stabschef. Seibert gibt das Tempo vor – und das ist atemberaubend.

Nicht weniger als 900 Eilentscheidungen wurden seit Beginn der Coronakrise in Brüssel getroffen. Auch sonst setzt von der Leyen auf „mehr Europa“: bei der Gesundheit, wo sie nun auch den Krebs bekämpfen will, in der Außenpolitik, wo sie ein Bündnis mit den USA anstrebt, oder beim EU-Budget, das noch nie so prall gefüllt war wie heute.

Zusammen mit dem neuen, bis zu 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds, der aus Schulden finanziert wird, gebietet sie über fast zwei Billionen Euro – mehr als jeder Kommissionspräsident vor ihr. Mit dem vielen Geld will sie Europa umkrempeln und die EU retten.

Nicht Merkel, sondern von der Leyen sei die wahre „Mrs. Europa“, schrieb das britische Magazin The Critic im vergangenen Sommer, kurz nach der Einigung auf den Rekord-Etat. Doch seither ist ihr Stern verblasst, jetzt geht es an die Umsetzung der großen Visionen.

Und da sieht es nicht so gut aus, wie der Streit um die Impfstrategie zeigt. Die nächste Bewährungsprobe kommt schon im Frühjahr, wenn es um die Umsetzung der Klimapläne geht. Bei den EU-Gesetzen, die von der Leyen bald vorlegen will, steht auch Merkel auf der Bremse.

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