Das Faxen dicke

Versäumnisse, Wunder, Notwendigkeiten – Corona-Deutschland, eine Zwischenbilanz

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PICTURE ALLIANCE/UTA POSS
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Das Faxen dicke

Versäumnisse, Wunder, Notwendigkeiten – Corona-Deutschland, eine Zwischenbilanz

Gerade ist es ein Jahr her, dass der erste Coronafall in Deutschland diagnostiziert wurde. Was zunächst als chinesisches und dann bayerisches Problem eingeschätzt wurde, entwickelte sich rasant zu einer weltweiten Pandemie. In den Monaten März bis Mai erfasste uns die so genannte erste Welle. Stringente Maßnahmen zur Eingrenzung wurden ergriffen, die klinischen Behandlungskapazitäten wurden deutlich erweitert. Mit Blick auf andere Länder hatte man in Deutschland den Eindruck, dass Schlimmeres an uns vorübergegangen sei, weil wir so „gut“ waren.

Obwohl in den ersten Wochen massive Defizite in der Pandemiebekämpfung und ihrer Folgen sichtbar waren, legte man ab Mai die Hände in den Schoß, anstatt die Zeit zu nutzen, um die Digitalisierung der Gesundheitsämter und der Schulen schnell und pragmatisch voranzubringen. Zwar gab es einen vielstimmigen Chor von Experten, die warnten, dass es zu einer zweiten Welle im Herbst kommen würde. Doch zuerst einmal fuhr die Republik in den Urlaub und stellte im August mit großer Überraschung fest, dass diese Urlauber ja auch wieder zurückkehrten. Eilig und reichlich unkoordiniert wurden Teststellen an Flughäfen und Autobahnen aufgestellt, mangelnde Laborkapazität und IT-Chaos taten das ihrige.

Ein erster Zündstoff für eine zweite Welle war eingeschleppt, und die Gesundheitsämter faxten immer noch.

Die Öffentlichkeit lächelte Anfang Oktober über die Prognosen der Bundeskanzlerin, die tägliche Raten von 19 000 Infizierten für Weihnachten prognostizierte. Halbherzig wurden Eindämmungsmaßnahmen ergriffen, wiederum mit föderalen Unterschieden und unter der irrigen Vorstellung, dass eine Überschwemmung in Koblenz nicht auch ein paar Tage später in Köln auftrete. Die Fallzahlen stiegen exponentiell, das Gesundheitswesen, die Intensivstationen wurden nun tatsächlich maximal gefordert, Bundesländern wie Sachsen stand das Wasser bis zum Halse. Zur Jahreswende gab es weit mehr als das Doppelte an Fällen. Die Pflegekräfte, obwohl sie bereits viel, viel mehr als im Frühjahr leisteten, waren ohne Unterlass gefordert. An den Strukturen hatte sich nicht viel geändert, die Gesundheitsämter faxten – jetzt mit Hilfe der Bundeswehr – größtenteils immer noch, die Schulen warteten auf die Lieferung der Lehrerlaptops, die Corona-Warn-App zeigte Grün, und die Todeszahlen stiegen von Tag zu Tag.

In dieser Phase richteten sich alle Blicke auf das Impfen. Schon im Frühjahr war klar, dass man dieser Pandemie am Ende nur mit einem breiten Impfschutz würde beikommen können. Nimmt man die üblichen Entwicklungszeiten für Impfstoffe, so geschahen fast Wunder. Schon im dritten Quartal 2020 gab es die ersten erfolgversprechenden Entwicklungen. Als Erstes wurde in Russland geimpft, in Europa jedoch blickte man auf diesen sehr konventionellen Ansatz etwas skeptisch herab. Etwas später kamen BionTech und Moderna mit ihrem einem iPhone-ähnlichen Innovationssprung, der mRNA-Technik, auf den Markt. Andere Großfirmen versuchten sich ebenfalls: AstraZeneca, Johnsen & Johnsen, Merck und Sanofi. Der Wettlauf um ausreichenden Impfstoff ging los. Die Bestellungen in millionenfachen Dosen hatten einen gewissen Lotteriecharakter, weil noch nicht klar war, welches Konzept und welche Firma das Rennen machen würde.

Und wie es sich zeigte, waren die Ansätze qualitativ risikobehaftet. Merck musste ganz aufgeben, Sanofi hatte Probleme. BionTech/Pfizer sowie Moderna waren zuerst mit einem offenbar äußert wirksamen Impfstoff da. Alles schien gerettet. Da entwickelten sich zwei neue Herausforderungen: Zum einen stellte sich heraus, dass die Firmen Versprechen gemacht hatten, die weit über ihren Kapazitäten lagen, und es traten Virusmutanten auf den Plan mit einer höheren Ansteckungsrate. Wie immer, wenn es von einem Stoff zu wenig gibt, kommt Streit auf, und man blickt auf den Nachbarn, der angeblich mehr abbekommt. Tatsache ist, dass die Produktionskapazitäten der Firmen und ihrer Zulieferer für die erforderlichen Mengen derzeit nicht ausreichen. Die gute Nachricht ist, es besteht berechtigte Hoffnung. BionTech/Pfizer nimmt ein Werk in Marburg in Betrieb, Sanofi bietet an, den BionTech-Impfstoff in seinen ehemaligen Hoechst-Werken in Frankfurt zu produzieren. Das Versprechen, dass genug Impfstoff im Sommer da ist, bleibt realistisch. Die schlechte Nachricht – auch für Wahlkämpfer – ist: Die Virusmutanten werden dennoch schneller sein als die Impfung. Ihrer Ausbreitung ist weiterhin nur durch konsequente Eindämmung beizukommen. Von Lockerung noch keine Spur.

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