Das Fremde

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Das Fremde

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Vergessen wir für diesen Moment die Regeln der Political Correctness, die im 18. Jahrhundert so oder so noch nicht existierten, und wenden uns einem zentralen Werk der Weltliteratur zu: „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe. Aus aktuellem Anlass könnte es sich lohnen, dort einmal hineinzulesen, obschon das Design dieses Romans nicht der weltanschaulichen Moderne entspricht. Doch kaum irgendwo sonst in der Literatur wird das Phänomen des Fremden so eindrücklich und greifbar beschrieben. Der Autor braucht dafür nur ein einziges Bild. Das Fremde begegnet dem Schiffbrüchigen auf der unbekannten Insel als menschlicher Fußabdruck im Sand, der größer ist als der eigene. Der Größenunterschied induziert das Bedrohungsgefühl. Er weckt die Vorstellungskräfte seines Betrachters und mit ihnen die Angst. Robinson Crusoe kann im Moment der Entdeckung ja nicht vorhersehen, ob sich im Sand der Schrecken ankündigt oder die Erlösung aus seiner Einsamkeit. Jahre soll es dauern, bis er es weiß.

Diese für die Fremdheitserfahrung typische Ambivalenz ist in Vergessenheit geraten. Das Fremde steht heute für Abenteuer, Schaulust, mitunter auch für den Kick. Aber nur, solange man die Begegnung kontrollieren, sie dosieren oder gar beenden kann. Einer ungewollten Begegnung mit dem Fremden wohnt dagegen noch immer das Gefahrengefühl inne: Führt sie nämlich allzu sehr aus dem Gewohnten heraus, müssen wir anders denken.

Genau dies hat Deutschland 2015 erlebt und dieses Jahr wieder, mit jeweils mehr als einer Millionen Geflüchteter, die über die Grenzen kamen und noch kommen. Nur dass wir den Fremden nicht in der Fremde begegnen, sondern im eigenen Land, und dass sich diese Begegnungen unserer Kontrolle entziehen. Jetzt müssen wir anders denken.

Die scharfe Debatte um ein neues Staatsbürgerschaftsrecht kann vor diesem Hintergrund gedeutet werden. Die auffällig unsachlichen, gar abfälligen Reaktionen der Unionsparteien auf die Reformvorschläge der Bundesinnenministerin sprechen jedenfalls dafür. Mit der Angst vor dem Fremden lässt sich bis heute allerorts Politik machen. Dabei sind Nancy Faesers Vorschläge noch nicht einmal besonders überraschend. Sie wollen die Erlangung der Staatsbürgerschaft – recht logisch – an Integrationsfortschritte binden und eine doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen, was weltweit keinesfalls singulär ist.

Gleichwohl fielen harsche, ja, abwertende Worte. Von Verramschung der deutschen Staatsbürgerschaft war die Rede, vom Wühltisch. Zusammen mit dem überstrapazierten Bild der Einwanderung in die Sozialsysteme wird die Intention seiner Propagandisten augenfällig: Dort soll mit Hilfe von Bedrohungsszenarien vermittelt werden, dass der Bevölkerung durch die Fremden etwas verlorengeht. Genau das macht vielen Angst.

Es stellt sich die Frage, wie ernst die Union ihre Argumente selbst nimmt. Sind sie nur Mittel zum Zweck erhoffter Veränderung politischer Zustimmungswerte in der Bevölkerung? Wir erinnern uns daran, dass durch das perfide Spiel mit der Angst vor dem Fremden der Unionspolitiker Roland Koch einst die hessischen Landtagswahlen für sich entschied. Oder sind Friedrich Merz, Alexander Dobrindt und ihre Parteikolleginnen und -kollegen tatsächlich von dem überzeugt, was sie diese Woche zum Besten gaben? So ganz genau will man es womöglich gar nicht wissen.

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