Das Gras auf der anderen Wiese

Die näher rückende Regierungsmacht legt die Bruchlinien der Grünen offen

22
11
IMAGO IMAGES/XIM.GS
Robert Habeck und Annalena Baerbock
22
11
IMAGO IMAGES/XIM.GS
Robert Habeck und Annalena Baerbock

Das Gras auf der anderen Wiese

Die näher rückende Regierungsmacht legt die Bruchlinien der Grünen offen

Vom kürzlich verstorbenen SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel stammt der schöne Satz, der Marsch durch die Institutionen habe „die Marschierer stärker verändert als die Institutionen“. Exemplarisch belegt wird er durch die Grünen, die als erste erfolgreiche Neugründung in der bundesdeutschen Parteienlandschaft inzwischen auf eine 40-jährige Geschichte zurückblicken.

Unterteilt man diese Geschichte in Etappen, so währte die Ära der reinen Anti-Establishment-Partei nur kurz. Ab Mitte der 1980er-Jahre gewannen bei den Grünen die „realpolitischen“ Kräfte die Oberhand, die für den Primat der parlamentarischen Arbeit eintraten und die Bereitschaft zur Übernahme von Regierungsverantwortung bekundeten. Angeführt von Joschka Fischer, gelang es ihnen, den Einfluss des öko-sozialistischen und radikal-ökologischen Flügels so weit zurückzudrängen, dass dessen Exponenten – Trampert, Ebermann und Ditfurth – die Partei nach und nach verließen.

Besiegelt wurde das neue Selbstverständnis auf dem Parteitag in Neumünster im April 1991, auf dem sich die Grünen unmissverständlich zur parlamentarischen Demokratie bekannten. Sechs Jahre zuvor war es bereits zur ersten Koalition mit der SPD auf Landesebene (in Hessen) gekommen, der zahlreiche weitere Bündnisse und die siebenjährige Zusammenarbeit im Bund – von 1998 bis 2005 – folgten.

Als festes Inventar des Parteiensystems sind die Grünen auch machtpolitisch nicht mehr wegzudenken. Dies gilt zumal, als sie ihre Koalitionsoptionen in Richtung Union erfolgreich erweitert haben. Als einzige unter den Bundestagsparteien wären sie heute an allen denkbaren Bündnissen jenseits der Großen Koalition (Schwarz-Grün, Ampel, Jamaika und Linkskoalition) beteiligt. Entschiedener lässt sich eine Etablierung nicht denken.

Symptomatisch für den Weg der Grünen ins Establishment ist das Verschwinden der in den 1980er-Jahren prägenden Entgegensetzung von „Realos“ und „Fundis“ aus dem politischen Sprachgebrauch. An seine Stelle ist das „normale“ Neben- und Gegeneinander eines rechten und linken Flügels getreten, das sich – wie bei den anderen etablierten Parteien – an unterschiedlichen programmatischen Positionen und Koalitionspräferenzen festmacht und von – ebenfalls normalen – personellen und Machtkonflikten begleitet wird. Auch organisatorisch hat die Partei ihre Alleinstellungsmerkmale aus der Gründungsphase eingebüßt. Für ihren anti-bürgerlichen Habitus gilt das ohnehin. „Basisdemokratie“ praktizieren die Grünen heute genauso viel oder so wenig wie ihre Mitbewerber. Und den von ihnen früher vehement geforderten Volksentscheiden stehen sie mittlerweile skeptisch bis ablehnend gegenüber.

Ab 2018 erlebten die Grünen in den bundesweiten Umfragen einen deutlichen Aufschwung, der auch durch die Coronakrise nicht nachhaltig gebremst wurde. Im Parteiensystem rangieren sie seither vor der SPD auf Platz zwei. Dem lagen und liegen mehrere miteinander verbundene Ursachen zugrunde. Erstens profitierten die Grünen in doppelter Hinsicht vom Oppositionseffekt – weil sie selber nicht regieren mussten und weil Union und SPD in der widerwillig zusammengezwungenen erneuten Großen Koalition ein schlechtes Bild abgaben. Zweitens gelang ihnen mit Annalena Baerbock und Robert Habeck eine überzeugende personelle Neuaufstellung an der Spitze, die den Wählern das Bild einer geschlossen auftretenden, fast harmoniesüchtigen Partei vermittelte. Und drittens spielte ihnen der Bedeutungsanstieg des Klimaschutzthemas im Zuge der weltweiten „Fridays for Future“-Proteste in die Hände. Als „Umweltpartei“ besaßen die Grünen von jeher einen Kompetenzvorsprung auf diesem Gebiet, den sie nun voll ausspielen konnten.

Trotz der Coronakrise dürfte sich an dieser für sie günstigen Themenagenda im kommenden Wahljahr nicht viel ändern. Damit wachsen aber auch die Probleme. Angesichts des Überdrusses an der jetzigen Koalition erscheint es ausgemacht, dass die Grünen Teil der nächsten Regierung sein werden. Dadurch stehen sie stärker als die politische Konkurrenz unter Druck, Farbe zu bekennen und die eigenen Positionen deutlich zu machen. Für welche Klimaschutzmaßnahmen treten die Grünen ein? Welches Regierungsbündnis peilen sie an? Und welche „roten“ Linien würden sie ziehen, wenn sie mit der Union koalieren müssten und diese klimapolitisch auf die Bremse tritt?

Mit solchen Fragen geraten jetzt auch die schon bestehenden Regierungsbeteiligungen der Grünen auf der Länderebene vermehrt in den Blick – immerhin elf an der Zahl. Welche Erfolge können sie dort bei der Energie-, Verkehrs- und Agrarwende vorweisen? Wie haben sie sich im Bundesrat verhalten? Und wie gehen sie damit um, dass sie bundespolitische Vorhaben, die aus ihrer Sicht falsch sind, in den Ländern mittragen müssen – wie zum Beispiel den Bau der A49 in Hessen?

Die Grünen machen gegenwärtig zum ersten Mal die Erfahrung, dass sie bei ihren ökologischen Kernthemen von außen herausgefordert werden. Die „Fridays for Future“-Bewegung betrachtet sie nicht (mehr) als ihren natürlichen Bündnispartner und parlamentarischen Arm, sondern attestiert der Partei ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil sie eine Politik mittrage und -verantworte, die die Pariser Klimaschutzziele erkennbar verfehle. In Baden-Württemberg wird ein Ableger der Bewegung bei der Landtagswahl als „Klimaliste“ gegen die Grünen antreten, was diese wertvolle Prozentpunkte kosten könnte. Ob das Vorboten einer größeren Abspaltung sind, bleibt abzuwarten. Sicher ist, dass es Streit in die Partei hineintragen wird.

Wenn Habeck und Baerbock heute davon sprechen, die Bekämpfung des Klimawandels erfordere mehr Radikalität, bleibt das im Wesentlichen Rhetorik. Beide wissen nur zu gut, dass ein radikales Programm in der Regierungsverantwortung nicht durchsetzbar wäre. Ihr pragmatisch-realistischer Ansatz, Marktwirtschaft und technischen Fortschritt in den Dienst eines ökologisch und sozial verträglichen Wachstums zu stellen, dürfte mit Blick auf die überwiegend wohlsituierte eigene Wählerschaft strategisch richtig sein. Diese plädiert zwar entschieden für mehr Klimaschutz, möchte aber zugleich möglichst viel von ihrem heutigen Lebensstil bewahren. Dass beides nicht unbedingt zusammengeht und das Ziel einer CO2-freien Wirtschaft ohne eine Abkehr vom Wachstumsparadigma Illusion bleibt, wird auch von vielen in der grünen Partei so gesehen. Massive Konflikte über die in einer künftigen Regierung zu schluckenden Kröten sind damit vorprogrammiert – die Möglichkeit eines totalen Scheiterns inklusive.

Die wachsende Nervosität der Parteispitze zeigt, dass sich die Grünen dieser Gefahr bewusst sind. In den vergangenen zweieinhalb Jahren konnte die Partei wenig falsch machen und sich auf der Woge der öffentlichen Zustimmung entspannt zurücklehnen – das wird ab jetzt nicht mehr funktionieren.

Weitere Artikel dieser Ausgabe