Das moralische Universum

Editorial des Verlegers

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Das moralische Universum

Editorial des Verlegers

Liebe Leserinnen und Leser,

das wohl erstaunlichste, bewegendste und anregendste Buch des vergangenen Jahres war für mich Harald Jähners „Wolfszeit“, das von Deutschland in den Jahren 1945 bis 1955 erzählt (erschienen bei Rowohlt Berlin).

Und Erzählen ist hier im besten Sinne zu verstehen: das Lebendigwerden einer Zeit in all ihrer menschlichen Vielfalt und Vieldeutigkeit, in allen Schattierungen, in tiefer Dunkelheit nach zwölf Jahren Terrorherrschaft, aber eben auch in aufhellenden Hoffnungsschimmern des Aufbruchs. Jähner hat das große historische Buch geschrieben, das so viel über ferne Zeiten sagt wie über unsere Gegenwart.

In diesem Herbst folgte mit „Wolfszeit. Ein Jahrzehnt in Bildern“ (ebenfalls Rowohlt Berlin) eine geradezu logische und folgerichtige Ergänzung. Begleitet von einem eleganten Essay sammelt Harald Jähner darin eine Auswahl historischer Aufnahmen, die derart ausdrucksstark sind, dass es mir immer wieder schwerfällt, eine Seite weiterzublättern. (Eines dieser Bilder aus dem Band, die Artistin Margret Zimmermann, können Sie in dieser Ausgabe sehen.)

Als ich den Beitrag Jähners für diese Ausgabe des Hauptstadtbriefs am Samstag las, gewannen Bilder und Gedanken aber noch einmal eine neue Dimension. Dem großen Feuilletonisten gelingt dort eben jener geistesgeschichtliche Brückenschlag – man könnte es auch einen Drahtseilakt nennen –, in dem er, jenseits von Pandemieverharmlosung, falls dies eigens gesagt werden muss, die menschlichen und gesellschaftlichen Stimmungen und Bedürfnisse, Hoffnungen und Sehnsüchte damals und heute in Beziehung setzt.

Dabei geht es Jähner nicht um klare und eindeutige Aussagen, gerade jener Zwiespalt zwischen Vernunft und Verlangen ist sein Thema: „Der ominösen Partyszene – schon das ein Begriff der Verteufelung – wird entgegengehalten, es gebe in Corona-Zeiten doch weiß Gott Wichtigeres als zu tanzen. Das stimmt. Aber dass es wegen der Corona-Gefahr umso leichter fallen müsste, auf das Tanzen zu verzichten, stimmt eben nicht. In Zeiten größter Gefahr herrschte in Deutschland regelmäßig eine Art Tanzwut.“

Die Geschichten über die Staatsanwaltschaft des Southern District of New York (SDNY) in Manhattan sind legendär. Sovereign District of New York – eigenständig und überlegen, wird jene Abteilung gern genannt, in der die großen Wall-Street- und Korruptions-Fälle, Terrorismus, Cyber-Verbrechen und Grundrechtsverfahren betrieben werden.

Elie Honig war dort jahrelang als Staatsanwalt beschäftigt und machte dem Ruf der Institution alle Ehre.

Honig ist inzwischen Rechtsexperte für den Sender CNN und schreibt in diesem Hauptstadtbrief eine Anklageschrift gegen Bill Barr, noch immer Donald Trumps Justizminister und einer der willfährigsten und zynischsten Büttel des Präsidenten.

Barr hat seinen Rücktritt angekündigt – ein vorsichtiges Zeichen, dass er mit Trumps anhaltender Weigerung, das Ergebnis der Präsidentenwahl anzuerkennen, dann doch irgendwann nichts mehr zu tun haben möchte? Angesichts der Machenschaften und unsäglichen Aussagen Barrs in den vergangenen Wochen und Monaten auch nur eine fromme Hoffnung.

Aber wie es in Anlehnung an Martin Luther Kings berühmten Satz über den langen Bogen des moralischen Universums, der dereinst zu Gerechtigkeit – justice – führe, heißt: „The arc of the moral universe is long, but it bends towards the Southern District.“

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich – bis morgen

Ihr Detlef Prinz

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