„Das Wichtigste ist Empathie, Geduld, aber auch die Bereitschaft, irgendwo Grenzen zu ziehen.“

Wirklichkeitsverrenkungen, Wunderheiler, Wahlverlierer: Warum glauben so viele Menschen an Verschwörungserzählungen? Die Autorin Katharina Nocun hat Annäherungsversuche. Ein Gespräch

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GORDON WELTERS
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GORDON WELTERS

„Das Wichtigste ist Empathie, Geduld, aber auch die Bereitschaft, irgendwo Grenzen zu ziehen.“

Wirklichkeitsverrenkungen, Wunderheiler, Wahlverlierer: Warum glauben so viele Menschen an Verschwörungserzählungen? Die Autorin Katharina Nocun hat Annäherungsversuche. Ein Gespräch

Der Hauptstadtbrief: Frau Nocun, Sie haben gemeinsam mit Pia Lamberty das Buch, „True Facts. Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft“ geschrieben, das in der vergangenen Woche erschienen ist.
Warum gibt es eigentlich Verschwörungserzählungen? Welche Bedürfnisse werden damit befriedigt oder ruhiggestellt?

Katharina Nocun: Verschwörungserzählungen docken sich sehr geschickt an psychologische Grundbedürfnisse an, die wir alle in uns tragen. Existenzielle Motive haben mit dem Wunsch nach Sicherheit und Kontrolle zu tun. Der Glaube an einen großen Plan kann gerade in Krisenzeiten die Illusion von Kontrolle schaffen, da man glaubt, Muster im Chaos zu erkennen. Epistemische Motive hängen damit zusammen, dass wir die Welt um uns verstehen möchten. Die Zukunft erscheint zudem plötzlich vorhersehbar. Und dann können natürlich auch soziale Gründe eine Rolle spielen.

Verschwörungserzählungen sind nicht zuletzt eine Art Heldengeschichte, die man sich und anderen erzählen kann. Man erhebt sich damit über andere, meint „selbst zu denken“, während andere als „Schlafschafe“ abgewertet werden. Solche Geschichten vermitteln ihren Anhängern: Du bist etwas Besonderes, Du bist mehr als nur ein kleines Rädchen im Getriebe.

Besonders bei Corona- oder Klimaleugnern drängt sich der Verdacht auf, dass eine allgemein missliche und unangenehme Lage umgedeutet werden soll, es möge doch bitte nicht so sein – und dafür dann nach „Begründungen“ gesucht. Verschwörungstheorien als eine Art umgedrehtes Wunschdenken?

Tatsächlich gibt es Studien, die einen Zusammenhang zwischen Verschwörungsglauben und Projektion hinweisen. In einer Untersuchung der Psychologen Karen Douglas und Robbie M. Sutton konnte gezeigt werden, dass Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, auch eher angaben, bereit dazu zu sein, selbst eine Verschwörung anzuzetteln – vorausgesetzt, sie wären in einer entsprechenden Machtposition und hätten einen Vorteil dadurch. Einige Anhänger schließen also sozusagen von sich auf andere.

Sie beschreiben Verschwörungstheorien, etwa das ausgefeilte Hinweissystem QAnon, als in der Sache kompliziert, aber emotional einfach. Wie funktioniert dieser vermeintliche Gegensatz in der Praxis, in den Köpfen der Menschen?

Oft heißt es, Verschwörungserzählungen würden eben „einfachere Erklärungen“ bieten. Wenn man genauer hinschaut, merkt man aber schnell: Das stimmt so pauschal nicht. Verschwörungserzählungen sind auf inhaltlicher Ebene oft hochkomplex. Bei QAnon wird etwa behauptet, es gäbe Geheimorganisationen, die alles in der Welt steuern, mal wird behauptet der Papst wäre dabei, dann der Popstar Lady Gaga und wenig später wird behauptet, ein Online-Möbelladen wäre Dreh- und Angelpunkt geheimer Machenschaften. Selbst für Anhänger ist es oft schwer, auf dem Laufenden zu bleiben, weil die Geschichte ständig weitergesponnen wird. Eines bleibt aber immer gleich: Die Welt steht am Abgrund und nur die Gruppe kennt den Ausweg. Auf emotionaler Ebene vermittelt QAnon das Bild einer ganz klar in „Gut“ und „Böse“ einteilbaren Welt ohne Grautöne. Das wirkt auf einige Menschen attraktiv.

Telegram, TikTok, Facebook und YouTube helfen trotz erster Versuche der Infomüll-Eindämmung noch immer prächtig bei der massenhaften Verbreitung von obskuren Theorien. War „früher“, wenn nicht alles besser, so doch weniger absurd?

Zur NS-Zeit wurden antisemitische Verschwörungserzählungen wie etwa die „Protokolle der Weisen von Zion“ in der Schule gelehrt. Während der Schwarzen Pest wurde verbreitet, Juden hätten die Brunnen vergiftet und es kam zu Pogromen. Der Kalte Krieg war von Verschwörungsmythen auf beiden Seiten des Konflikts geprägt. Selbst der Mythos der Flachen Erde ist kein Phänomen des Internets, im 19. Jahrhundert gab es in Großbritannien einen Mann namens Samuel Rowbotham, der Vorträge vor großen Sälen hielt und behauptete, die Erde sei eine Scheibe. Auch damals gab es schon Faktenchecks, die in großen Zeitungen abgedruckt wurden – trotzdem pilgerten Tausende zu seinen Veranstaltungen. Die Inhalte, die heute von Anhängern des Flache-Erde-Narrativs auf YouTube verbreitet werden, unterscheiden sich nur wenig von dem, was schon vor mehr als hundert Jahren an Mythen kursierte. Natürlich nutzen Verschwörungsideologen heutzutage auch soziale Netzwerke und Messenger, um ihre Inhalte zu verbreiten. Und natürlich können Feed- und Empfehlungsalgorithmen großer Plattformen bei der Verbreitung eine Rolle spielen. Aber das Phänomen ist viel älter.

Im Buch beschreiben Sie bewusste Fälschungen, etwa ein umsynchronisiertes Video von Bill Gates, in dem er angeblich ankündigt, drei Milliarden Menschen mit dem Coronavirus umbringen zu wollen. Die Menschen, die dergleichen für wahr oder auch nur möglich halten, sind das eine. Kann man aber etwas über diejenigen sagen, die solche Videos erstellen – als Urheber der Fälschung sollten sie ja gerade nicht an diese glauben können?

Es gibt definitiv eine Schnittmenge zwischen Desinformation und Verschwörungserzählungen. In vielen Fällen kann man zwar davon ausgehen, dass die Verbreiter entsprechender Geschichten selbst auch davon überzeugt sind. Verschwörungserzählungen werden aber teils auch verbreitet, um Geld mit angeblichen Wundermitteln zu verdienen oder um gezielt Angst und Zwietracht zu säen. Es ist ja durchaus fraglich, ob das komplette Trump-Team an das Märchen einer angeblichen Wahlfälschung geglaubt hat – bei der selbst vom Trump-Lager ernannte Richter es ablehnten, angestrengte Gerichtsverfahren weiter zu verfolgen, aus Mangel an Beweisen. Das Verbreiten von Verschwörungserzählungen über den politischen Gegner kann eben auch durchaus politisch opportun sein. Der russische Staatssender Russia Today hat beispielsweise immer wieder rechtsextremen Verschwörungsideologen ein Podium geboten.

 

 

Sie beschreiben im Buch sehr eingehend, wie schwierig und belastend es ist, wenn Familienangehörige oder gute Freundinnen und Freunde plötzlich wilden bis menschenverachtenden Verschwörungstheorien anhängen. Worauf sollte im Umgang mit ihnen besonders geachtet werden?

Viele Menschen wünschen sich einen einfachen 10-Punkte-Plan, doch den gibt es nicht. Jeder Fall ist anders. Das Wichtigste beim Umgang mit Verschwörungsanhängern im eigenen Umfeld ist Empathie, Geduld, aber auch die Bereitschaft, irgendwo Grenzen zu ziehen. Bei „leichten“ Fällen kann es sehr viel Sinn machen, inhaltlich zu argumentieren und beispielsweise auf Faktenchecks zu verweisen.

Wenn jemand allerdings schon sehr von einer Geschichte überzeugt ist, kommt man mit Fakten oft nicht mehr durch oder der andere reagiert schnell gereizt auf Kritik oder Rückfragen. Aus psychologischer Sicht ist das auch nachvollziehbar: Wenn der Glaube daran, als einer der wenigen „den Plan“ zu durchschauen, Menschen ein gutes Gefühl gibt, fühlt sich Kritik schnell wie ein persönlicher Angriff an, den es um jeden Preis abzuwehren gilt, um das Selbstwertgefühl zu schützen. Statt zu erwarten, den anderen in einem Gespräch unbedingt überzeugen zu müssen, sollte man sich lieber realistische Ziele setzen.

Das kann beispielsweise bedeuten, dass man den anderen neugierig auf eine andere Perspektive macht, Zweifel an einer These artikuliert oder einen wichtigen Gedankenimpuls im Gespräch anbringen kann. Es kann aber auch der Punkt kommen, an dem man inhaltlich nicht mehr weiterkommt und sich vielmehr fragen sollte: Was macht diese Geschichte für den anderen so attraktiv? Welches Bedürfnis wird hier befriedigt? Und kann ich dem irgendwie den Nährboden entziehen? Hier findet die Intervention dann eher auf der emotionalen Ebene statt. Das Umfeld sollte sich klar machen, dass gerade bei Menschen, die schon sehr überzeugt sind, so eine Intervention oft ein sehr langer und auch anstrengender Prozess sein kann.

Es braucht viel Geduld. Und auch die Einsicht: Man kann dem anderen zwar ein Angebot machen. Aber ob dieser es annimmt, das hat man nicht in der Hand. Wichtig ist daher immer auch zu schauen, wie es einem selbst damit geht – und auch Grenzen zu ziehen und sich Pausen zu gönnen. Niemand muss sich von anderen als „Schlafschaf“ oder „Merkel-Marionette“ beschimpfen lassen, ständige Bekehrungsversuche über sich ergehen lassen oder antisemitische Verschwörungserzählungen beim Familienessen dulden. Hier sollte man dem anderen klarmachen, dass die Grenzen der anderen respektiert werden sollten, wenn das Zusammenleben weiter funktionieren soll. Im Zweifel können auch Beratungsstellen helfen.

Für die Recherche zu Ihrem Buch mussten Sie selbst sehr tief in die Abgründe der Verschwörungswelt, in der angeblich Eliten Kinderblut trinken und Donald Trump wiedergewählt wurde, abtauchen. Wie hält man das intellektuell aus?

Wenn man anfängt, sich mit dem Thema zu beschäftigen, findet man das alles oft noch unterhaltsam oder zumindest skurril. Je mehr man aber mit Menschen spricht, die selbst einmal in solchen Milieus unterwegs waren oder aber Angehörige dadurch „verloren“ haben, desto mehr vergeht einem das Lachen.

Eine große Motivation für die Arbeit ist für mich der Gedanke, anderen Menschen zu helfen, die mit solchen Situationen in ihrem Umfeld konfrontiert sind und nicht weiter wissen. Da geht es dann etwa darum, dass ein Angehöriger eine dringend empfohlene medizinische Behandlung verweigert und stattdessen auf einen obskuren Wunderheiler setzt. Für Außenstehende klingt es vielleicht lustig, wenn jetzt auf Telegram teils dazu aufgerufen wird, Masken zu tragen und Abstand zu halten, weil Verschwörungsanhänger glauben, Impfungen seien ansteckend. Doch stellen Sie sich einmal vor, wie das ist, wenn in einer Familie einer an so etwas glaubt und daraufhin versucht, anderen die Impfung auszureden. Oder wenn dieser Angehörige den Kontakt zu geimpften Menschen abbricht und sich immer mehr sozial isoliert, weil der Glaube an solche Lügengeschichten nach und nach alles im Leben dominiert. Das kann Familien zerstören, Ehen zerbrechen lassen und lebenslange Freundschaften entzweien.

Sie schreiben, dass Sie nach Veröffentlichung des ersten Buches zum Thema, „Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ selbst Beleidigungen und Drohungen erhielten. Wie hält man das menschlich aus?

Ich bekomme Morddrohungen, seitdem ich mich in meinem Blog mit der AfD beschäftige. Einige Sachen gebe ich zur Polizei. Man wird vorsichtiger, es geht im Alltag viel Leichtigkeit verloren. Auch wenn es vielleicht trivial klingt, aber: Man gewöhnt sich daran. Mir bleibt ja auch nichts anderes übrig. Denn aufhören und damit das tun, was die Täter wollen, kommt für mich nicht infrage. Dieser neue Alltag ist nicht schön und ich teile ihn mit vielen anderen, die zu diesem Thema arbeiten und ebenfalls deshalb von Rechtsextremisten, Antisemiten und Verschwörungsideologen zu „Feinden“ oder „Verschwörern“ erklärt werden.

Ich würde mir daher auch mehr Zivilcourage im Alltag wünschen, wenn Verschwörungserzählungen im eigenen Umfeld verbreitet werden. Denn so etwas hat immer Folgen für diejenigen, die zum Teil des Feindbilds erklärt werden.

Die Fragen stellte Lutz Lichtenberger.

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