Demokraten weichen keinen Zentimeter

Ein Vermittler im besten Sinne. Ein Nachruf auf Thomas Oppermann

28
10
DPA
Wolfgang Kubicki und Thomas Oppermann
28
10
DPA
Wolfgang Kubicki und Thomas Oppermann

Demokraten weichen keinen Zentimeter

Ein Vermittler im besten Sinne. Ein Nachruf auf Thomas Oppermann

Im Nachhinein nimmt man bestimmte Momente, Äußerungen und Episoden immer anders wahr, wenn man erfährt, dass es eine der letzten Begegnungen mit einem besonderen Menschen gewesen ist. In der Rückschau auf die vergangenen Wochen und Monate glaube ich daher, dass Thomas Oppermann befreiter war, als für ihn feststand, dass er das Dasein als Politiker hinter sich lassen würde. Er verließ die Linie seiner Fraktion in der Frage der Wahlrechtsreform, weil sie ihn inhaltlich nicht überzeugte, und stimmte für den Vorschlag von Freien Demokraten, Linken und Grünen. Er stellte sich vehement gegen den Wunsch der Bundesregierung, die möglichst wenig parlamentarische Befassung mit den Corona-Maßnahmen für erforderlich hielt. Thomas Oppermann strahlte noch in den letzten Tagen seines Lebens eine unerschütterliche Vitalität und Entschlusskraft aus, von der sich viele seiner aufstrebenden Kollegen eine große Scheibe abschneiden konnten.

Er war freier, denn politisch hatte er nach seiner Entscheidung für den verdienten Ruhestand nichts mehr zu verlieren. Er hatte bereits enorm viel erreicht und bewirkt – für Deutschland, für unsere Demokratie, den Rechtsstaat und natürlich auch für seine politische Heimat, die Sozialdemokratie. Immer an der Front, mit offenem Visier. Wer einmal von sich sagen kann, Landesminister, Vorsitzender einer regierungstragenden Fraktion und Bundestagsvizepräsident gewesen zu sein, von dem kann man auch sagen: Mehr war kaum möglich. Er musste niemandem mehr etwas beweisen. Er musste nichts mehr werden, wollte aber noch etwas bewirken.

Das war ihm so wenig vergönnt wie das Leben, auf das er sich freute, abseits der hysterischen politischen Blase in Berlin. Den neuen Lebensabschnitt, den er sich nach der kommenden Bundestagswahl vornahm, konnte er nicht mehr begehen. Thomas Oppermann wurde mit einer brutalen Plötzlichkeit aus dem Leben gerissen, die uns alle schockiert hat. Mitten aus dem Leben. Mit nur 66 Jahren.

Politisch verband uns mehr, als es vielleicht manche glauben mochten. Er stand hinter dem Aufstiegsversprechen, dem sich die SPD einst im Godesberger Programm verschrieben hatte. Oppermann, Sohn eines Molkereimeisters, wusste genau, dass diese Idee auch seinen persönlichen Fortschritt begründete. Er war wie ich ein glühender Verfechter eines verträglichen Ausgleichs mit Russland. Als Mitglied des FC Bundestag kümmerte er sich um gemeinsame Spiele mit den Vertretern der Duma, dem russischen Unterhaus. Er wusste, dass auch der Fußball Barrieren auflösen und für mehr Verständigung sorgen konnte. Wir beide formulierten vor einigen Wochen ein gemeinsames Schreiben an den Vizepräsidenten der Staatsduma, Alexander Schukow, in dem wir um Aufklärung im Falle Nawalny baten. Thomas Oppermann war ein Vermittler, im allerbesten Sinne. Ihm war bewusst, dass die andere Seite immer mit Respekt behandelt werden muss, wenn man das Ziel verfolgt, sich friedlich zu verständigen.

Und ich war mir mit Thomas Oppermann immer einig, dass wir uns als Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages nicht von den Verächtern der Demokratie vorführen lassen. Seine Art, mal mit feinem Humor und selten auch mit gütiger Härte die Würde des Hohen Hauses zu schützen und zu verteidigen, hat mich immer beeindruckt. Es galt für ihn unumstößlich: Demokraten weichen keinen Zentimeter. Die Leitlinien der Verfassung galt es zu wahren und zu schützen. Diese Entschlusskraft paarte sich mit einer natürlichen und unaufdringlichen Autorität. Über alle Fraktionsgrenzen hinweg war seine Sitzungsleitung geachtet und geschätzt.

Noch am Freitag habe ich mit Thomas telefoniert. Wir verabredeten uns, uns in dieser Sitzungswoche über die Rückkehr zu geordneten parlamentarischen Verhältnissen in der Coronakrise intensiver auszutauschen. Wir beide waren uns im Klaren, dass die Stunde der Exekutive ein baldiges Ende finden müsse.

Er wirkte aufgeräumt, heiter. Ja, fast kämpferisch. Er sagte mir noch, dass er am Sonntag in der Sendung vom ZDF auch zu meinen öffentlichen Äußerungen zur Rückkehr der Parlamente befragt werde. Noch kurz vor seinem Zusammenbruch am Sonntag, so erzählten es mir seine Mitarbeiter im Bundestagsbüro, sei er in der Telefonschalte wie immer gewesen.

Als ich Montagfrüh die Nachricht von seinem plötzlichen Tod gehört habe, war ich erschüttert und tief getroffen. Thomas‘ Humor wird mir fehlen und seine sachliche Gelassenheit, die auch im heftigen Sturm nicht wankte. Wir alle verlieren einen großen Menschen mit einem großen Herzen. Die Lücke, die sein Tod reißt, ist riesengroß und schmerzt entsetzlich.

Meine Gedanken sind bei seiner Familie. Ich wünsche seinen Angehörigen viel Kraft.

Weitere Artikel dieser Ausgabe