Der fremde Osten

Warum es den etablierten demokratischen Parteien zunehmend schwerer fällt, in den jungen Bundesländern Fuß zu fassen

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PICTURE ALLIANCE/DPA/DPA-ZENTRALBILD
Baustelle Einheit(sdenkmal) in Berlin: Die Wippe – mitsamt ihrer fragwürdigen Symbolik – soll kommen.
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Baustelle Einheit(sdenkmal) in Berlin: Die Wippe – mitsamt ihrer fragwürdigen Symbolik – soll kommen.

Der fremde Osten

Warum es den etablierten demokratischen Parteien zunehmend schwerer fällt, in den jungen Bundesländern Fuß zu fassen

Pünktlich eine Woche vor der Wahl in Sachsen-Anhalt attestierte der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, den Menschen in Ostdeutschland eine stärkere Neigung zur Wahl rechtsradikaler Parteien als im Westen. Im „FAZ-Podcast für Deutschland“ sagte der 1975 in Karl-Marx-Stadt geborene CDU-Politiker: „Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.“ Ein Teil der Bevölkerung habe „gefestigte nichtdemokratische Ansichten“. Es bleibe nur Bildungsarbeit und das Hoffen „auf die nächste Generation“.

Genau solche Aussagen sind es, die den Wählern im Osten die Zornesröte ins Gesicht treiben. Genau solche Aussagen zeigen, dass zumindest in Teilen der Politik, oder schränken wir es hier auf den Zitatgeber aus der CDU ein, die aktuelle Wählerschaft bereits aufgegeben scheint. Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass gerade aus den Reihen der Ost-CDU ein – wenn auch kleiner – Proteststurm folgte. „Ein belehrender Ton und Besserwissertum hat im Osten noch nie geholfen“, sagte Mario Voigt, Spitzenkandidat der CDU in Thüringen. Auch der Landesvorsitzende der CDU in Sachsen-Anhalt, Sven Schulze, kritisierte Wanderwitz’ Aussage als nicht hilfreich. „Es wäre ein Armutszeugnis der Bundesregierung, wenn das die Antwort aus Berlin auf die teils erschreckend hohen Wahlergebnisse der AfD ist.“ Und vom konservativen Kreis der CDU in Mecklenburg-Vorpommern ätzt dessen Vorsitzender Sascha Ott, Direktor des Amtsgerichtes in Stralsund: „So, so, der Herr Ostbeauftragte ist also mit seinem Regierungsvolk nicht zufrieden? Marco Wanderwitz war 14 Jahre alt, als in Leipzig und vielen anderen mitteldeutschen Städten die Menschen auf die Straße gingen. Vielleicht weiß er deshalb nicht, dass die Menschen in der DDR getrieben waren von der Sehnsucht nach Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Dafür waren sie bereit, ihre wirtschaftliche Existenz, ihre Sicherheit, ja sogar ihr Leben einzusetzen. Es überrascht also nicht, dass viele Ostdeutsche besonders sensibel auf Bevormundung und Freiheitsbeschränkungen reagieren.“

Sascha Ott wäre vor fünf Jahren beinahe Justizminister in Mecklenburg-Vorpommern geworden – bis der in Leipzig geborene 55-Jährige ein paar Smileys unter einen AfD-Beitrag in den sozialen Medien setzte.

Aber jenseits der Aufregung – enthält Wanderwitz’ Beobachtung nicht auch ein Körnchen Wahrheit? Was ist los mit dem Osten? Warum fällt es den etablierten Parteien so viel schwerer als den Ländern der alten Bundesrepublik, ihre Wählerschaft an sich zu binden? Warum lassen Teile der Bürger eine stabile Bindung an die demokratischen Parteien vermissen?

Das war nicht immer so. Helmut Kohl wurde 1990 im Osten gewählt. 43,8 Prozent verzeichnete die CDU bei der Wahl zum 12. Bundestag am 2. Dezember 1990 – ganz im Zeichen der Wiedervereinigung drei Monate zuvor. Die SPD erreichte 33,5 Prozent. Mit 41,8 Prozent schnitt die CDU im Osten ab, mit 24,3 Prozent die SPD-Ost. Seither haben sich die Kräfte drastisch verschoben. Deutlich weniger als 30 Prozent der Zweitstimmen hatte die CDU in den ostdeutschen Ländern bereits bei den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 erhalten, und nach einem Hoch 2013 landete die Union 2017 bei 27,6 Prozent.

Drastischer als bei der Union fallen die Verluste der SPD im Zeitverlauf aus. Nach dem mäßigen Ergebnis bei der Einheits-Wahl 1990 stieg ihr Rückhalt bei den Wählern in Ostdeutschland bis 2002 auf knapp 40 Prozent an. Danach ging der Zweitstimmenanteil der SPD kontinuierlich zurück und lag zuletzt bei 13,9 Prozent.

Nutznießer dieser Entwicklung waren bedingt die Grünen und die Linke, seit 2013 aber ist es vor allem die AfD.

Wenn morgen in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt wird, dürfte dies für Amtsinhaber Rainer Haseloff und die CDU, ganz anders als für Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz oder Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg im März, zu einem Schicksalstag mit Signalwirkung für ganz Deutschland werden. In einigen Umfragen lieferten sich zuletzt CDU und AfD ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Zum ersten Mal könnte eine Partei mit einem rechtsextremen Flügel stärkste Kraft in einem deutschen Bundesland werden.

Mit einer Rede vor der Akademie der Künste in Berlin sorgte der ehemalige Bürgerrechtler Klaus Wolfram 2019 für Aufsehen, indem er nach 30 Jahren Einheit rekapitulierte: „Die AfD ist aber kein ostdeutsches Produkt, sondern eine ganz und gar westdeutsche Konsequenz. Sie verkörpert die Trennung des kleinen vom großen Bürgertum. Dieser Bruch bedeutet viel für die Bundesrepublik, er reicht tief und verändert… Ostdeutschland hat solches Bürgertum nicht. Hier fließen die Wahlerfolge der AfD aus anderen Quellen. Es sind vielleicht fünf Prozent ihrer hiesigen Wählerschaft, die wirklich die Überzeugungen der Parteiführung teilen. Aber die Wunde der öffentlichen Sprachlosigkeit schwärt schon lang, das mag 15 Prozent ergeben. Die aktuellen 25 Prozent sind dagegen ein echtes Lernergebnis der Ostdeutschen aus den schlechten Umgangsformen der Denkzettel-Demokratie.“

Zahlreiche Studien haben im Umfeld der verschiedenen Jahrestage der Einheit immer wieder das Verhältnis der Westdeutschen zu den Ostdeutschen beleuchtet. Michael Bluhm und Olaf Jacobs kamen 2016 in einer Studie der Universität Leipzig über ostdeutsche Eliten zu dem Schluss: „Folge war ein beispielloser Elitentransfer. Statt neue eigene Eliten zu entwickeln oder an das neue Staats- und Gesellschaftssystem anzupassen, wie es später in den meisten osteuropäischen Ländern passierte, standen in Deutschland von Beginn an in hinreichendem Umfang mit den neuen Verhältnissen Vertraute in den alten Bundesländern bereit, um die ostdeutschen Elitepositionen zu besetzen. Zur gleichen Zeit gab es jedoch auch eine erhebliche Migrationsbewegung in die entgegengesetzte Richtung. Vor allem ostdeutsche Fachkräfte folgten der Möglichkeit, Arbeitsplätze zu erlangen, von Ost nach West. Damit ist dem Osten Deutschlands erhebliches Potential für nachfolgende Elitepositionen verloren gegangen.“

Nur 23 Prozent betrug der Anteil Ostdeutscher innerhalb der Führungskräfte in den neuen Bundesländern zum Zeitpunkt der Studie – bei 87 Prozent Bevölkerungsanteil. Nur 1,7 Prozent der betrachteten Spitzenpositionen auf Bundesebene waren 2016 von Ostdeutschen besetzt – bei einem Bevölkerungsanteil von bundesweit 17 Prozent. Unter den etwa 200 Generälen und Admirälen der Bundeswehr gab es 2004 keinen einzigen, 2016 immerhin zwei Ostdeutsche. Lediglich die Bundesregierung spiegelt diese Verteilung mit 19 Prozent Ost-Anteil wider – vor fünf Jahren.

Im Vergleich zum Jahr 2004 gab es 2016 auf einigen Gebieten sogar einen Rückgang des Anteils der Ostdeutschen innerhalb der gesellschaftlichen Eliten. In den fünf Landesregierungen sitzen heute weniger ostdeutsche Politiker als vor 15 Jahren. Bei den Staatssekretären gab es einen Anstieg von 26 auf 46 Prozent. Unter den Geschäftsführern der 13 großen ostdeutschen Regionalzeitungen sank der Anteil Ostdeutscher von 36 auf 9 Prozent. In den Chefredaktionen dagegen gab es einen Anstieg von 42 auf 62 Prozent.

Die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung kam in einer Streitschrift „30 Jahre staatliche Einheit – 30 Jahre mediale Spaltung“ im Frühjahr auf dem Gebiet von Rundfunk, Fernsehen sowie regionalen und überregionalen Zeitungen zu ganz ähnlichen Feststellungen. „Mit diskursiver Agilität trug die überregionale westdeutsche Presse wesentlich zur Identitätsfindung und -bildung der alten Bundesrepublik bei. In Ostdeutschland hat die überregionale westdeutsche Qualitätspresse diese für eine demokratische Gesellschaft so essentielle Integrationsleistung nie entfaltet. Nach der Wiedervereinigung publizierten die westdeutschen Meinungs- und Debattenführer weiter exklusiv für die gebildeten Mittel- und Oberschichtenmilieus Westdeutschlands und trugen dadurch kräftig zur Verstetigung von ‚Ost‘ und ‚West‘ bei“, heißt es dort.

Die Leitmedien sind die der alten Bundesrepublik geblieben, die in Ostdeutschland bis heute kaum jemand liest. Und die regionalen Medien ersetzten diese Funktion nicht, setzten vielmehr auf regionale Identitäten. Sie entfalteten im Gegenteil in den vergangenen Jahren eine neue Debatte über ein neuauflebendes Bekenntnis zu einer Ostidentität von Menschen, die sich ihr Leben nicht von den führenden Köpfen der etablierten Parteien erklären lassen wollen. Und diese bleiben trotz aller Anläufe, dies zu ändern, wie Olaf Scholz beim Ostkonvent der SPD vorigen Sonntag in Halle, in der Regel ratlos zurück.

Diese Ratlosigkeit spüren die Menschen. Und suchen sich andere Identifikationsfiguren. Aus Protest, aus Enttäuschung, Wut und Resignation. Keine guten Ratgeber, aber ein Resultat erlebter Jahre der Bevormundung, ob im Namen der Demokratie oder der Arroganz der Macht.

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