„Der Krieg mitten in Europa erfordert neues Denken“

Krieg in der Ukraine, Zeitenwende in Deutschland, China und USA auf Konfrontationskurs – Wolfgang Ischinger im Gespräch mit dem Hauptstadtbrief über die Lage der Welt am Ende eines Jahres, das so schnell nicht vergehen wird

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CHRISTIAN KRUPPA
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„Der Krieg mitten in Europa erfordert neues Denken“

Krieg in der Ukraine, Zeitenwende in Deutschland, China und USA auf Konfrontationskurs – Wolfgang Ischinger im Gespräch mit dem Hauptstadtbrief über die Lage der Welt am Ende eines Jahres, das so schnell nicht vergehen wird

Der Hauptstadtbrief: Zehn Monate Russlands Krieg gegen die Ukraine, zehn Monate Zeitenwende in Deutschland. Was hat sich seit dem 24. Februar tatsächlich gewendet?

Wolfgang Ischinger: Die Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar ausgerufen, begründet und erläutert hat, ist kein vorübergehendes Phänomen, das jetzt zum Ende dieses Jahres ein vorhersehbares Ende hat. Ich sehe in der Zeitenwende eher sicherheitspolitisch das, was man im Gesundheitsbereich Long Covid nennt. Wir erleben ein sicherheitspolitisches und europapolitisches Long Covid mit ungewissem Ausgang, mit ungewissen Nebenwirkungen und Spätfolgen – wir wissen nicht, ob und wie Kreislauf, Kopf oder andere Organe erfasst werden. Und so erleben wir auch, dass dieses langanhaltende europa- und sicherheitspolitische Siechtum vielerlei Folgen haben wird.

Es sind nicht nur die energiepolitischen Maßnahmen, die notwendig geworden sind, es ist auch der Zusammenbruch der gesamten europäischen Sicherheitsordnung, der vor mehr als fünfzig Jahren symbolisch mit dem Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970 begonnen hat. Ich würde da gerne an einen Punkt anknüpfen, der für mich als Außen- und Sicherheitspolitiker wichtig ist: Es ist ganz falsch, jetzt im Rückblick zu sagen, die Ostpolitik war falsch. Die Ostpolitik war richtig, denn diese Ostpolitik, die damals unter Willy Brandt und mit gutem Rat von Egon Bahr und anderen entwickelt worden ist, war ja keineswegs eine Ostpolitik, die sich nur auf die Sowjetunion kaprizierte. Es war eine Ostpolitik, deren Ursprünge in eben jener Bitte um Vergebung in Warschau zu finden sind. Und es ging um die Beziehung zu allen östlichen Nachbarn Deutschlands. Das war der richtige Ansatz. Und dieser sollte, sobald es die Umstände erlauben, wieder verfolgt werden.

HSB: Immer wieder ertönt vor allem in Deutschland nicht nur von rechts- und links außen, die Forderung nach „Diplomatie“, nach „Verhandlungen“, ist der Satz zu hören: Frieden gibt es nur mit, nicht gegen Russland. Sind das bloß leere Formeln, am ehesten noch die Forderung, die vermeintlich am Ende doch chancenlose Ukraine solle so etwas wie „aufgeben“, oder eine echte Chance, die bisher oder noch immer vernachlässigt wird?

Ischinger: Zunächst stellt sich die Frage, wann, wenn überhaupt, die Stunde der Diplomatie beginnt. Das ist in der Tat eine drängende Frage, die immer wieder gestellt wird. Die Stunde der Diplomatie fängt in einer Kriegssituation, in der sich zwei kriegführende Parteien mit Waffen gegenüberstehen und sich tatsächlich beschießen, exakt erst in dem Augenblick an, wenn beide kriegführenden Parteien zu der Erkenntnis gelangt sind, dass sie durch Fortführung ihrer militärischen Aktivitäten keinen Zentimeter an Territorium mehr gewinnen können. Erst wenn diese Einsicht, und jetzt werde ich konkret, in Moskau vorhanden ist, macht es Sinn, mit der russischen Seite in Verhandlungen einzutreten. Verhandlungen zu fordern oder vorzuschlagen, solange die Einsicht, dass militärische Mittel nicht mehr weiterführen, im Kreml nicht vorhanden ist, gerieten nur zu Show. Sie würden die europäische sicherheitspolitische Lage nicht nur für die Ukraine, sondern auch für uns, die westlichen Partner der Ukraine, eher verschlechtern als verbessern.

HSB: Daran anschließend: Ein Aspekt dieser Diplomatie oder der Forderung lautet häufiger Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Von wem abgegeben? Von wem im Ernstfall gesichert?

Ischinger: Es gibt zunächst einmal ein Sicherheitsgarantiemodell, das außerhalb unseres unmittelbaren europäischen Umfelds liegt: Das ist Israel. Und ich denke, eine Teilantwort auf die prekäre sicherheitspolitische Lage der Ukraine wird die Aufgabe sein, die Ukraine selbst so auszustatten, wie das Israel in den vergangenen Jahrzehnten vermocht hat, nämlich sich so auszustatten, dass keiner der Nachbarn Israels es wagen kann, das Land anzugreifen. Die Ukraine ist nach meinem Dafürhalten auf einem guten Weg, sich so auszustatten, sich so auszubilden, sich so vorzubereiten, dass sie, wenn dieser Krieg mal zu Ende sein wird, über das kampfkräftigste, am besten ausgebildete, am besten ausgerüstete militärische Instrumentarium westlich der Russischen Föderation verfügen wird. Das ist Punkt eins.

Punkt zwei ist die Frage: Wie sieht es aus mit dem Wunsch der Ukraine, ein Nato-Partner zu werden? Dieser Wunsch existiert. Der Wunsch wird vom Bündnis, von der Nato, aufschiebend behandelt, nicht positiv beantwortet. Der Grund ist vor allem, dass man unterstellt, in dem Augenblick, in dem die Ukraine der Nato beiträte, würden die russischen Sorgen eines weiteren Heranrückens amerikanischer militärischer Kraft nur noch weiter verstärkt und wir würden damit möglicherweise den Konflikt eher perpetuieren als frühzeitig beenden. Nach heutigem Stand scheint eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine absehbar nicht verwirklichbar, obwohl diese für die Ukraine natürlich die höchste Sicherheit verspräche.

Eine dritte Variante wären bilaterale Absprachen. Insbesondere, wenn ich Ukrainer wäre, würde ich sagen: Ich brauche unbedingt eine zwischenstaatliche Vereinbarung zwischen der Ukraine und den USA. Eine solche Vereinbarung könnte beinahe den gleichen sicherheitspolitischen Wert haben wie eine förmliche Nato-Mitgliedschaft. Ich sehe in diesen drei Elementen Bausteine für die sicherheitspolitische Absicherung der Ukraine nach dem Ende der aktuellen Kriegshandlungen.

HSB: Stichwort Bundeswehr, Stichwort Sondervermögen: Ist die Bundeswehr auch mit viel Geld kaum reformierbar, wurde zu lange zu viel gespart? Oder entspricht die bedingte Einsatzfähigkeit einem zumindest großkoalitionär parteiübergreifenden und von einer Mehrheit der Bevölkerung getragenen Konsens?

Ischinger: Wir erleben in der deutschen Gesellschaft und auch in den politischen Parteien ein gewaltiges Umdenken. Ich erlaube mir als Beispiel den Grünen-Politiker Toni Hofreiter zu nennen. Er ist aber nur ein Beispiel unter vielen für jemanden, der in der Öffentlichkeit eher als ein pazifistisch denkender Grüner gesehen wurde, sich jetzt aber auch aus der Sicht seiner eigenen Fraktions- und Parteikollegen zu einem Fachmann für Leopard, Marder und andere Panzer entwickelt hat. Der Krieg mitten in Europa erfordert neues Denken: Wir müssen uns mit den militärischen Gegebenheiten befassen. Ich begrüße es, dass nicht nur in den Koalitionsfraktionen, sondern auch in den Unionsparteien die Bereitschaft gewachsen ist, überhaupt wieder über militärische Themen nachzudenken.

Ich bin ja sehr viel unterwegs, halte viele Vorträge und nehme an vielen Veranstaltungen teil, und ich stelle fest, dass bei Konzepten, die für meine Generation vor 50 Jahren gang und gäbe waren und die wir auch verstanden haben, ich nenne als Beispiel das Konzept der Abschreckung, viele jüngere Deutsche denken: Ach, der redet über Krieg. Man muss längere Ausführungen machen, um dem jüngeren deutschen Publikum zu erklären: Abschreckung ist Kriegsverhinderung, ist Kriegsverhütung, ist Prävention, ist Prophylaxe – ist eben das Gegenteil von Kriegsführung. Wir müssen das ganze Vokabular, das wir glaubten nach dem Kalten Krieg vergessen zu können, wieder aufrufen und vor allen Dingen bei einer jüngeren Generation überhaupt erst mal ins Verständnis heben.

Zur Lage der Bundeswehr und zu dem Sondervermögen. Ich habe versucht, durchaus in provozierender Absicht, den Begriff der Kriegswirtschaft in die Debatte zu werfen. Das ist im Deutschen ein vergifteter Begriff, weil er an Zeiten des Faschismus, an den Zweiten Weltkrieg erinnert, Kriegswirtschaft. Die Lage ist aber so: Unsere eigene Bundeswehr und die sie versorgenden Rüstungsunternehmen sind in den vergangenen Jahrzehnten so eingerichtet worden, dass sie eine massive Neuversorgung mit Munition, mit Waffensystemen, mit Gerätschaften gar nicht mehr leisten können. Es wäre meines Erachtens daher richtig, wenn die Bundesregierung das Notwendige an Investitionen und Maßnahmen priorisieren würde und ein beschleunigtes Verfahren beim Nachschub für Munition und Waffensysteme einführte. Dort gibt es ein konkretes Problem: die sogenannte Taxonomie. Nach den Begriffen der Taxonomien, nach den Vorstellungen, die es auch innerhalb der Ampelregierung gibt, sollen Rüstungsunternehmen steuerlich und finanziell nicht mehr förderungswürdig sein. Wenn wir es ernst meinen mit der notwendigen Aufrüstung, mit der Zeitenwende, mit der vom Bundeskanzler selbst ausgerufenen Zeitenwende und ihren Notwendigkeiten, kann es nicht richtig sein, wenn wir gleichzeitig den Rüstungsunternehmen sagen: Wir beteiligen uns nicht an eurer Finanzierung, wir machen eure Finanzierung sogar noch schwieriger, wir erschweren das. Das passt nicht zusammen. Ich bin der Meinung, dass wir dort umsteuern müssen, um, ähnlich wie in Frankreich geplant, die Industrie in die Lage zu versetzen, den notwendigen Bedarf, den die Bundeswehr hat, decken – und nicht zuletzt auch, um die Ukraine wie erwartet beliefern zu können.


Zum Gespräch in der Humboldt-Lounge der Dienstags-Gesellschaft am Schinkelplatz 3 in Berlin trafen sich Wolfgang Ischinger (links), Verleger Detlef Prinz (Mitte) und Lutz Lichtenberger.



HSB: Wir hatten schon über die Nato im Zusammenhang mit der Ukraine gesprochen. Aber noch weitergedacht: Wozu ist das transatlantische Bündnis noch in der Lage? Droht ob der unterschiedlichen finanziellen Ausstattung und Einsatzbereitschaft und trotz vermeintlicher politischer Einigkeit früher oder später der Bruch? Oder in der klassischen Frage zusammengefasst: Wither Nato?

Ischinger: Wenn Sie mir diese Frage vor dem 24. Februar gestellt hätten, hätte ich eine bedenkenträgerische, eine sorgenvolle Antwort gegeben. Ich bin jetzt der Auffassung, dass die Aussichten dafür, dass die Nato nicht nur politisch, sondern auch militärisch und inhaltlich noch stärker zusammenwächst und sich gegenseitig befruchtet, gut sind, auf jeden Fall wesentlich besser als noch vor einem Jahr. Alleine das Signal, dass die Bundesregierung nach jahrelangem Hickhack und Zögern sich dazu durchgerungen hat, nun im Sinne der sogenannten nuklearen Teilhabe das teuerste, beste, schnellste und modernste Kampfflugzeug der Welt zu kaufen, die F35, ist ein auch für die ganze Nato wichtiges Signal: dass das wichtigste Land in Europa sich nicht verabschiedet vom Prinzip der nuklearen Teilhabe. Wenn Sie sich das Nato-Bündnis insgesamt ansehen: Wer hätte denn gedacht – ich hätte es noch vor Jahresfrist nicht –, dass ein seit 300 Jahren neutrales Land wie Schweden und Finnland, das noch im Zweiten Weltkrieg massiv gegen die Sowjetunion gekämpft hat und Teil des eigenen Territoriums abgeben musste, jetzt Mitglieder der Nato werden! Das ist das Gegenteil dessen, was Putin mit seinem Angriff bezweckt hat. Er erreicht tatsächlich insgesamt politisch, strategisch und militärisch offensichtlich das Gegenteil der selbstgesetzten Ziele. Und das ist wiederum gut für uns, für unsere langfristige Sicherheit und für das Nato-Bündnis insgesamt.

HSB: Seit Jahren fordern Experten, darunter prominent auch Sie, eine schlagkräftige europäische Truppe. Warum lässt sie immer noch auf sich warten, obwohl dadurch im besten Fall Etats eingespart und Fähigkeiten verbessert werden könnten?

Ischinger: Eigentlich ist das Prinzip ja ganz einfach. Wir haben konstatiert – und die Münchner Sicherheitskonferenz hat dazu schon vor sechs Jahren einen längeren Bericht vorgelegt, dem das zu entnehmen ist –, dass wir als Europäer sechsmal so viele Waffensysteme produzieren und unterhalten wie die USA. Jeder Erstklässler kann nachrechnen, dass Unterhalt, Wartung und Ausbildung für sechsmal so viele Waffensysteme wesentlich ineffizienter und pro Waffe natürlich auch sehr viel teurer sind, als wenn man sich mit sehr viel weniger Systemen befassen muss. Ergo muss die Schlussfolgerung lauten: Wir brauchen in Europa nicht drei verschiedene miteinander konkurrierende Kampfflugzeuge, wir brauchen auch nicht fünf verschiedene Panzertypen, sondern wir müssen versuchen, das zu machen, was man auf Neudeutsch Pooling and Sharing nennt, also Zusammenlegen. Zusammenlegen der produzierenden Firmen, Zusammenlegen der Ausbildung, Zusammenlegen des Trainings, Zusammenlegen überhaupt der Fähigkeiten.

Es gibt dafür hervorragende Pilotprojekte, die aus meiner Sicht aber noch viel breiter angelegt werden. Zum Beispiel das seit einigen Jahren bestehende gemeinsame Transportflugprogramm, das sicherstellt, dass ein Transportflieger, der beispielsweise für die Bundeswehr irgendwas von A nach B fliegt, anschließend nicht leer nach Hause zurückfliegt, sondern beispielsweise für Belgien oder Frankreich Gegenstände von B nach A zurückfliegt. Das ist die Methode, mit der Europa effizienter, kostengünstiger und am Schluss auch militärisch schlagkräftiger agieren soll.

Das Rezept ist klar. Warum klappt es nicht? Wegen nationaler Rivalitäten und Rücksichtnahme natürlich auch auf Arbeitsplätze in der jeweiligen Rüstungsindustrie, die häufig im Raum stehen. Deshalb muss das Thema der europäischen militärpolitischen Sicherheitslücken-Konsolidierung Chefsache sein. Nur wenn Bundeskanzler, französischer Präsident und ihre Counterparts sich über diese Prinzipien einigen, wird man einen Weg finden, um sicherzustellen, dass eben nicht in Deutschland mehr Arbeitsplätze verlorengehen als in Frankreich oder umgekehrt. Es muss eine faire Methode gefunden werden. Das ist politisch nicht immer ganz leicht, ist aber der einzige Weg nach vorne. Und ich hoffe, dass die jüngst erzielte Einigung über das deutsch-französisch-spanische Luftkampfsystem der Zukunft FCAS (Future Combat Air System) einen positiven Weg weist.

HSB: Ist Deutschland auf der internationalen Bühne darauf aus, trotz der vielen Beschwörungen ein Minor Player zu bleiben? Wäre spätestens jetzt, wo sich herausstellt, dass das ökonomische Modell des wirtschaftlichen Global Players Germany nicht wie bisher fortgesetzt werden kann, dies zu ändern? Stichworte China und die Menschenrechte, protektionistische Tendenzen auch in der Biden-Regierung, die Bedrohungen und Gefahren durch den Klimawandel.

Ischinger: Zunächst einmal ist dieses ganze Bündel von Themen verknüpft durch ein wichtiges Prinzip. Deutschland hat in der Vergangenheit kein Instrumentarium gehabt – und hat es eigentlich bis zur Stunde nicht –, um strategische potenzielle oder bereits tatsächlich existierende Verwundbarkeiten (wie aktuell in der Debatte über pharmazeutische Produkte wie Fiebersaft für Kinder) zu definieren und in den Griff zu bekommen. Pharmazie ist ein Bereich, Energie ist ein zweiter. Die Bundesregierung hat über die vergangenen Jahrzehnte hinweg diese Fragen an die jeweilige Industrie de facto outgesourct. Nun stellt sich heraus, dass das keine hinreichende Sicherheit bietet und dass es notwendig ist, ein Instrumentarium bereitzuhalten, das solche strategischen Verwundbarkeiten beschreibt und bestimmte Rahmenbedingungen definiert. Beispielsweise: Deutschland soll von keinem Energielieferanten zu mehr als 20 Prozent oder 25 Prozent abhängig sein. Oder: Wir wollen von keinem Pharmazielieferanten, egal, ob das Indien oder China ist, mehr als 30 oder 35 Prozent abhängig sein. Das Stichwort lautet mithin: Diversifizierung. Das bedeutet nicht Abkopplung vom Weltmarkt, Deglobalisierung. Das wäre Gift für die deutsche Wirtschaft. Es geht um Risikostreuung. Systematisch bestritten, werden uns Unfälle wie die seit langem bekannte, aber nie angepasste, nie angefasste energiepolitische Abhängigkeit nicht mehr in dieser Form passieren können.

Die Fragen stellte Lutz Lichtenberger.

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