Der Wert der Vergangenheit

Vom Denkmal zum Mahnmal – über die Vielschichtigkeit der Geschichte

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06
PICTURE ALLIANCE / PHOTOSHOT
Unter Quarantäne: Churchill-Denkmal auf dem Parliament Square in London
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Unter Quarantäne: Churchill-Denkmal auf dem Parliament Square in London

Der Wert der Vergangenheit

Vom Denkmal zum Mahnmal – über die Vielschichtigkeit der Geschichte

Der historische Wertehimmel wankt. Überall in der westlichen Welt werden in diesen Wochen Denkmäler gestürzt und Symbole attackiert, die an die Taten großer oder einst für groß gehaltener Männer erinnern: in England die Statuen von Sklavenhändlern und Sklavenhaltern, in Belgien ein Denkmal von König Leopold II. und in den USA eine Figurengruppe von Südstaaten-Soldaten; im Kapitol von Sacramento in Kalifornien das Denkmal von Christoph Kolumbus.

Die damit erhoffte Befreiung des öffentlichen Raums von kolonialen und rassistischen Traditionslasten erinnert an den postkommunistischen Abriss von Lenin- und Dzierżyński-Denkmälern im Ostblock nach 1989 und an den öffentlich zelebrierten Fall der Saddam-Hussein-Statue in Bagdad 2002. An solcher Befreiung ist nichts zu kritisieren: Denkmalstürze sind so legitim wie zuvor ihre Errichtung; insbesondere nach Kulturbrüchen und Regimewechseln dienen sie der Festigung des Sieges über eine abgeschüttelte Herrschaft und der Lossagung von ihren Überbleibseln. In Deutschland verschwanden nach 1918 Königskronen und Hoflieferantenschilder aus dem Stadtbild, um die republikanische Idee zu festigen, und nach Kriegsende 1945 begann die Abkehr vom Nationalsozialismus mit der Entsorgung seiner Herrschaftssymbole.

Die abermals in Bewegung geratene Denkmalkultur folgt heute einem Wandel, den die westliche Geschichtskultur schubweise und uneinheitlich bereits seit 1945 zu durchlaufen begonnen hat. Sie vollzieht den Schritt vom traditionellen Heldenkult zur heutigen Opferempathie, sie entwickelt sich weg von der anbetenden Verehrung hin zur mitfühlenden Wiedergutmachung, die sich in den letzten Jahrzehnten zum gesellschaftlichen, wenngleich am rechten Rand ausfransenden Konsens entwickelt hat.

Doch diese Erklärung reicht nicht aus, wenn die kritische Revision nicht weniger als die Geschichte der Neuzeit insgesamt auf dem Prüfstand stellt. Christoph Kolumbus wie Martin Luther, Immanuel Kant wie Arthur Schopenhauer, Heinrich von Kleist und Richard Wagner, Otto von Bismarck wie Winston Churchill sind Gegenstände eines erbitterten Streits um öffentliche Ehr-Würdigkeit geworden, der gelegentlich auch nationalsozialistisch verfolgte Intellektuelle wie Erich Kästner erfasst: Dem Dichter, dessen Werke damals die Nazis öffentlich verbrannten, warfen ihre demokratischen Nachfahren in München vor, nicht ins Exil gegangen zu sein.

Die Tatsachen selbst sind dabei nicht zu bestreiten: Die europäische „Entdeckung“ und faktische Eroberung Amerikas, die mit Kolumbus begann, hatte tödliche Folgen für die indigene Bevölkerung, und sie bereitete dem transatlantischen Sklavenhandel den Weg; Bismarcks Organisation der Berliner Konferenz 1878 leistete der Aufteilung Afrikas Vorschub. Schopenhauer bekannte öffentlich seine Frauenfeindschaft; der im Laufe seines Lebens zum Judenfeind gewordene Luther predigte in der Wittenberger Stadtkirche, an deren Fassade noch heute als Schmähplastik eine mittelalterliche „Judensau“ zeigt, und Erich Kästner schlug sich in Deutschland durch, während viele seiner Schriftstellerkollegen im Exil zugrunde gingen.

Sorge bereiten muss aber, wenn die historische Kritik in einen moralischen Rigorismus umschlägt, der nur zwischen Gut und Böse unterscheidet und von nichts Drittem wissen will. Diese Sehnsucht nach Eindeutigkeit ist zutiefst unhistorisch. Sie verweigert sich schon der Erkenntnis, dass die Scheidelinie zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Geschichte mäandert, und dies auch bei Bismarck: Nicht mit seiner Politik, sondern mit seinem erzwungenen Abgang als Reichskanzler ging die Zeit des gezähmten Nationalismus in Deutschland zu Ende und machte den Weg für eine unbesonnene Großmachtpolitik frei, die ihren „Platz an der Sonne suchte“, indem sie das Bismarcksche Bündnissystem zerstörte und seine zurückhaltende Kolonialpolitik aufgab. Bismarck hatte nach 1870/71 keine Kriege mehr geführt noch angedroht, sondern die europäischen Händel als „ehrlicher Makler“ zu schlichten versucht, das Deutsche Reich zu einer saturierten Nation erklärt, die an Kolonien nicht interessiert sei: „So lange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik.“ Dass er dennoch auf dem Berliner Kongress 1878 zur Sicherung des europäischen Friedens sogar forcierte und 1884/85 die Unterstellung von Togo, Kamerun und Gebiete in Ostafrika, Neu-Guinea samt „Bismarck-Archipel“ unter deutsche Herrschaft billigte, zählt zu der widersprüchlichen Vielschichtigkeit des politischen Handelns, die sich durch die Fixierung auf einzelne historische Akteure nicht fassen lässt, gleichviel ob als Helden wie einst oder Schurken wie heute.

Der Kampf unserer Tage gegen den Rassebegriff im Grundgesetz hingegen gilt einer historischen Formulierung, die niemand mehr als Tatsache ansieht.

Gezieltes Vergessen ist gefährlich. Es schafft Leerräume, die sich unkontrolliert füllen können. Die Zerstörung seines Porträts hat Marino Faliero, den 55. Dogen Venedigs, nicht aus der Geschichte gelöscht; aber sie hat eine Blindstelle geschaffen, die sich durch historische Rekonstruktion nicht mehr schließen lässt: Die Gerichtsakten zu dem von ihm angeblich geplanten Staatsstreich wurden mit der damnatio memoriae vernichtet. Wo aber die historische Aufklärung ins Leere greift, nehmen Legenden und Gerüchte ihren Platz ein. Was der Vormoderne recht war, ist der Gegenwart billig: In Kiel wurde vor wenigen Jahren das Hindenburgufer in Kiellinie umbenannt. Nicht bedacht hatte man, dass der scheinbar harmlose Begriff aus der Marinesprache stammt und zur eigenen Absicherung hintereinander laufende Schiffsverbände bezeichnet – in Kiel läuft die Kiellinie nun auf einen Marinestützpunkt zu, der mit dem Scheerhafen und der Tirpitzmole zwei Weltkriegsstrategen im Admiralsrang ehrt.

Wo Geschichte aber auf einsträngige Geschichtsmuster reduziert wird, geht das Verständnis für Differenzen verloren. Die Berliner Mohrenstraße, das Augsburger Mohren-Hotel, die Frankfurter Mohrenapotheke sind anstößig, weil sie im Gegenwartsverständnis rassistischen Spott transportieren. Ihre Benennung aber verdankt sich im Gegenteil nicht selten einer zeitgenössischen Wertschätzung. Sie versicherte sich in einen Fall maurischer Heilkunst und verwies im anderen vermutlich auf ein schwarzafrikanisches Musikkorps im preußischen Heer Friedrichs I.

Oft ist der Sockelsturz befreiende Tat, und dann schreibt er selbst Geschichte. Aber zu bedenken bleibt, dass Denkmale mit dem Wandel der Zeit nicht nur überholtes Inventar sind. Sie können sich vom Denkmal zum Mahnmal wandeln, sie können unbequem sein, stutzig machen und Anstöße geben; sie können von einer Vergangenheit künden, die mehr ist als ein bloßer Spiegel der Gegenwart. Wenn ihr dieses Potential zu sehr genommen wird, verliert die Vergangenheit den Wert der Andersartigkeit, aus dem hilfreiche Orientierung für die Zukunft zu gewinnen ist. Antiquarische Bewahrung oder kritische Beseitigung – beides hat seinen legitimen Platz, und welche Entscheidung zwischen beidem jeweils angemessen ist, muss in der Gesellschaft immer neu ausgehandelt werden.

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