Die Enteignung des Publikums

Übersteht die Weltwirtschaft den gefährlichen Ritt auf dem Tiger namens Inflation?

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PICTURE ALLIANCE/ZB | ANDREAS ENGELHARDT
Non-Fungible Tokens (NFT), Version 1923
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Die Enteignung des Publikums

Übersteht die Weltwirtschaft den gefährlichen Ritt auf dem Tiger namens Inflation?

Seit einigen Wochen geht das „Gespenst“ der Inflation um, Gespenst deshalb, weil sie etwas Unheimliches hat, etwas Unberechenbares, dessen Bedeutung schwer abzuschätzen ist. Zumeist wird vor der Inflation gewarnt, hin und wieder findet sich aber auch ihr Lob oder zumindest ihre Akzeptanz; gelegentlich liest man auch von der Unterscheidung zwischen „guter“ und „böser“ Inflation.

Dieses Durcheinander an Stimmen ist Zeichen der herrschenden Ratlosigkeit. Zwar wird allgemein von einer höheren Inflation ausgegangen; viele Zentralbanker betreiben auch genau eine solche Politik, von der sie positive gesamtwirtschaftliche Effekte erhoffen. Aber niemand weiß genau, wo die starke Aufblähung der Geldmenge enden wird und ob es schließlich möglich sein wird, den Tiger, den es zu reiten gilt, auch wieder zu bändigen, sollte man seiner Dienste überdrüssig werden. Auch ein wirtschaftshistorischer Blick kann das zukünftige Risiko nicht begrenzen und daher die Entscheidungsunsicherheit nicht beenden. Aber er kann aber deutlich machen, worauf man sich einlässt – und das lohnt einen Rückblick allemal.

Gold- und Geldversorgung

Dabei sollte die deutsche Inflation 1923 nicht im Vordergrund stehen; sie war derart exzeptionell, dass sie sich kaum als Vergleichsfolie eignet. Es gibt andere Beispiele, die Chancen und Risiken inflationärer Bewegungen besser zeigen. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es so etwas wie eine bewusste staatliche Wirtschafts- und Konjunkturpolitik kaum. Im Rahmen der vorherrschenden Währungssysteme, die sich auf Münzmetall (Gold, Silber oder beides zusammen) stützten, kam es abhängig von der Versorgung mit Münzmetall zu inflationären, aber auch zu deflationären Phänomenen, die erhebliche gesamtwirtschaftliche Auswirkungen hatten. Doch ist die historische Erfahrung relativ eindeutig: Geldmengenschwankungen wirken sich auf den ökonomischen Strukturwandel aus, sie verursachen ihn aber nicht. Die kalifornischen und australischen Goldfunde der frühen 1850er-Jahre begünstigten die Ausweitung der Geldmengen, und das feuerte den Industrialisierungsprozess an, ebenso wie das Ausbleiben weiterer Goldfunde in den 1870er- und 1880er-Jahren zur Großen Depression, einer Wachstumsverlangsamung, beitrug. Der sich anschließende Aufschwung der zweiten industriellen Revolution, der Übergang zur wissenschaftsbasierten industriellen Fertigung etwa im Bereich der Chemie und der Elektrotechnik, wurde dann durch die Goldfunde in Südafrika und Alaska begünstigt, aber eben nicht hervorgerufen.

Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass unter günstigen Wachstumsbedingungen eine mangelnde Geldversorgung, die in stagnierenden oder gar sinkenden Preisen zum Ausdruck kommt, zum Problem werden kann. Aber daraus ergibt sich im Umkehrschluss keinesfalls die Konsequenz, dass unter den Bedingungen ökonomischer Stagnation oder nur schleppenden Strukturwandels die politisch gewollte Ausweitung der Geldmenge die gewünschten Wachstumseffekte nach sich zieht. Genau das war aber die Lehre, die einflussreiche Ökonomen aus dem Desaster der Weltwirtschaftskrise von 1929 zogen. Für die einen stand eine defensive Geldpolitik im Zentrum der Kritik; die anderen monierten die fehlende staatliche Wirtschaftspolitik, die die Krisen nicht wirksam bekämpft habe. Während man im 19. Jahrhundert noch „zusah“, war jetzt klar, dass aktiv eingegriffen werden müsse, um schwere Krisen zu verhindern. Und die Geldmenge und die Zinssätze schienen geeignete Handlungsparameter.

Boom and bust

Beide Strömungen zusammen bestimmten die Steuerungsvorstellungen der Nachkriegszeit, die Vorstellung, durch angemessene staatliche Geld- und Konjunkturpolitik ließe sich ein gleichgewichtiges Wirtschaftswachstum dauerhaft stabilisieren. In den 1970er-Jahren, mit dem Auslaufen des Nachkriegsbooms und der Rückkehr zum ökonomischen Alltag mit Krisen und Strukturproblemen, schlug deren große Stunde. Doch die seinerzeit vorherrschenden keynesianischen Hoffnungen blieben unerfüllt, ja, erzeugten das Gegenteil dessen, was man anstrebte. Die zugrundeliegenden Erwartungen an die Wirksamkeit der Phillips-Kurve („Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.“) wurden bitter enttäuscht. Die Wirtschaft sprang trotz massiver Staatsintervention und einer sprunghaft wachsenden Verschuldung nicht an, die Arbeitslosigkeit schoss vielmehr in die Höhe. Was zunahm, war allerdings der inflationäre Druck. Wo sich Wachstumsschwäche und hohe Staatsaktivitäten ergänzten, konnten unter dem zusätzlichen Druck der nach oben schießenden Ölpreise die Inflationsraten zeitweilig außer Kontrolle geraten. In Großbritannien lagen sie mitunter bei fast 20 Prozent; der soziale Zusammenhalt des Landes wurde schwer belastetet, da den Gewerkschaften kaum etwas anderes übrigblieb, als das Land mit zahlreichen Streiks zu überziehen. Da er das Ansehen der Labour-Regierung unter James Callaghan ruinierte, war es dieser Winter of Discontent 1978/79, der Margaret Thatcher überhaupt erst die Chane ermöglichte, an die Macht zu kommen.

„Modell Deutschland“

Die Stagflation war kein britisches Sonderphänomen, sondern kennzeichnete die Mehrzahl der westeuropäischen Volkswirtschaften. Die Bundesrepublik machte dort nur insofern eine Ausnahme, als die Bundesbank zur Stabilisierung der D-Mark sehr restriktiv reagierte und überdies die deutschen Außenhandelserfolge die Folgen des Ölpreisanstieges, der etwa die britische Zahlungsbilanz schwer belastete, begrenzten. Das erleichterte das Handeln der Regierung Schmidt, die sich selbstbewusst im Wahlkampf 1976 als „Modell Deutschland“ präsentierte, aber bald danach auch über steigende Arbeitslosenzahlen, eine zunehmende Staatsverschuldung, eine weiterhin relativ hohe Inflation und niedrige Wachstumsraten stolperte. Das Gegenmittel war in allen Fällen der sogenannte Neoliberalismus, also eine Zurücknahme der Staatstätigkeit, eine restriktivere Zinspolitik und eine Intensivierung der Anreizsteuerung, was zumindest im britischen und amerikanischen Fall auch funktionierte. Das Zurückgehen der Inflationsraten wurde aber auch durch sinkende Ölpreise, vor allem aber durch die sukzessive wirtschaftliche Öffnung Chinas befördert, wodurch ungeahnte Menge preiswerter Güter nach und nach die Weltmärkte überfluteten.

Das sukzessive Verschwinden der Inflation befeuerte zugleich die Illusion, eine lockerere Geldpolitik sei sinnvoll und möglich. Diese Illusion wurde nicht nur durch das Ende der älteren Inflation genährt, auch das nach und nach wieder anziehende ökonomische Aktivitätsniveau mit der beginnenden mikroelektronischen Revolution begünstigte diesen Glauben, der vor allem in der Regierungszeit von Ronald Reagan, der seine großen Regierungsprogramme bei deutlich gesenkten Steuersätzen vor allem durch eine ungeahnte Ausdehnung der Staatsverschuldung finanzierte, zum Tragen kam.

Ausnahme Deutschland

Und es funktionierte derart gut, dass die nachfolgenden Regierungen das Muster kopierten. Ohne von Inflationsängsten gepeinigt zu sein, wurden seit den 1990er-Jahren die Grundsätze einer lockeren Geldpolitik nicht nur bestimmend, jetzt erschien der gesamte Finanzsektor Träger einer ungeahnten Dynamik, die durch Liberalisierung nur freizusetzen war. Der Glaube war schließlich ziemlich verbreitet, die moderne Geldpolitik verschaffe dem Staat endlich ausreichende Handlungsmöglichkeiten, um auf Krisenphänomene und ihre Folgeerscheinungen wirksam reagieren zu können, ohne dabei allzu große inflationäre Risiken eingehen zu müssen. Eine Ausnahme war erneut die Bundesrepublik, wo – wie bereits in der Krise der 1970er-Jahre – die Bundesbank auf die steigenden Inflationssätze nach der Wiedervereinigung sehr zum Ärger der europäischen Nachbarn mit harten Zinsrestriktionen reagierte, die für Deutschland günstig waren, in vielen anderen Staaten aber die Konjunktur abzuwürgen schienen.

Erst in diesem Kontext wird die große Weltfinanzkrise wirklich verständlich. Sie war die Folge jener Illusion der nur positiven Folgen einer lockeren Geldpolitik und entsprechend deregulierter Finanzmärkte. Die große Weltfinanzkrise von 2007/8 hatte dabei paradoxe Folgen. Denn so sehr sie Resultat der lockeren Geldpolitik und der Deregulierung der Finanzmärkte war, so sehr schien die lockere Geldpolitik, das Quantitative Easing, der einzige Weg, um ohne größeren Schaden aus der Krise wieder herauszukommen. Entsprechend handelten – bis auf Deutschland und die Schweiz, die sehr schnell auf konsolidierte Haushalte und sinkende Schulden setzten – fast alle Staaten durch weitere Ausdehnung der Staatsverschuldung und die Zentralbanken durch niedrige Zinsen und umfangreiche Anleihekäufe. Dass trotzdem die wirtschaftlichen Daten nicht wirklich gut wurden, wurde nicht einer fehlerhaften Politik angerechnet, sondern als ein zu wenig dieser Politik diagnostiziert, wodurch vor allem die bundesdeutsche Schuldenbremse ins Kreuzfeuer dieser Kritik geriet, obwohl die deutsche Wirtschaft eine der wenigen war, die die große Finanzkrise rasch überwanden.

Und dann kam Corona

Auch strukturell waren und sind die Folgen der lockeren Geldpolitik nicht gut. Betrachtet man allein die schleppende Produktivitätsentwicklung in den vergangen 20 Jahren, ist Optimismus jedenfalls nicht am Platz. Die lockere Geldpolitik hat zwar 2008 die Krise unmittelbar gemildert, aber durch die Weiterführung in den anschließenden Jahren in vielerlei Hinsicht auch chronifiziert, viele unwirtschaftliche Strukturen konserviert, marode Unternehmen erhalten, vielen kaum produktiven Bereichen das Weiterleben ermöglicht.

Der Ausbruch der Coronakrise 2020 hat dann alles noch einmal verstärkt: Nun also sollen es erneut Geldmengensteigerungen, Schuldenzunahme und aktive Ausgabenprogramme auch in der bisher zurückhaltenden Bundesrepublik leisten, wobei bemerkenswert ist, dass diese Wende als „europäische Solidarität“ verkauft wird, keineswegs als zwingende binnenwirtschaftliche Maßnahme. Wo das enden wird, ist schwer zu prophezeien. Im günstigen Fall setzt ein Wachstumsschub ein, der Inflation und niedrige Zinsen in den Schatten stellt und deren negative Folgen aufhebt. Wahrscheinlich ist das angesichts der Produktivitätsschwäche nicht. Vielmehr zeigt sich eine Konstellation, die eine höhere Inflation erwarten lässt, aber eben keine der guten Art, die Wachstumspotentiale verstärkt und deren Nutzung durch positive Zukunftserwartungen stimuliert.

Das ökologisch-ökonomische Dilemma

Viele der jetzt geplanten (schuldenfinanzierten) Eingriffe sollen ja auch gar nicht primär eine Erhöhung der Produktivität herbeiführen, als vielmehr eine „grüne Energiewende“ ermöglichen, die ökologisch sinnvoll sein mag, aber wirtschaftlich auf sehr wackligen Füßen steht. Dass auf diese Weise das Produktivitätsproblem gelöst wird, ist ziemlich sicher ausgeschlossen. Diese Konstellation aber kennen wir aus den großen Inflationen, von denen hier absichtlich nicht die Rede war: Stark wachsende Geldmengen bei stagnierender oder nur gering zunehmender Wirtschaftsleistung bilden eine brisante Mischung – brisant gerade in einer Welt, in der die Vielzahl von Konflikten genug Anlässe bietet, um aus latenten plötzlich offene Krisen werden zu lassen, die das Vertrauen in die Währungsstabilität zusätzlich gefährden. Und selbst wenn es, wie zu hoffen ist, zu keiner inflationären Eskalation kommt, auch eine moderatere Geldentwertung verspricht wenig Gutes.

Höhere Inflation mag den Schuldendruck, der auf den Staatshaushalten lastet, mindern, doch um welchen Preis tut sie das? Bei niedrigen, politisch gedeckelten Zinsen und gleichzeitig nur schleppender Produktivitätsentwicklung läuft sie de facto auf eine Enteignung des Publikums hinaus, soweit es über Geldvermögen verfügt, und begünstigt die Besitzer von Sachwerten, in welcher Form auch immer.

Für die soziale Stabilität ist das allein deshalb kein gutes Zeichen, weil in diesem Kontext die Verteilungskämpfe zunehmen werden, nicht zuletzt, weil die Gewerkschaften nicht zusehen können, wie sich die Einkommen ihrer Mitglieder laufend verringern. Die Zentralbanken hoffen, dort jeweils gegensteuern zu können, aber sie sind längst im Dilemma konkurrierender, sich gegenseitig ausschließender Ziele gefangen. Der Rückkehr zu einer restriktiven Geld- und Zinspolitik, wie sie die USA 1979 angesichts hoher Inflationsziffern vollzogen, sind kaum überwindbare Grenzen gesetzt. Und schon kleinere Zinsschritte können in der globalen Finanzwelt unkalkulierbare Reaktionen auslösen.

All das ist schon ein Ritt auf dem Tiger, von dem man nur hoffen kann, dass er nicht so ausgeht, wie der Limerick, den ich im Englischunterricht auf der Schule lernte und nie vergaß. Er lautet etwa: There was a young Lady in China/she rode with a smile on a tiger/but on the return of the ride/was the Lady inside/and the smile on the face of the tiger.

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