Die hohle Maske des Reformwillens

Die Zeit für eine Wahlrechtsreform des Deutschen Bundestags drängt. Dies ist mehr als eine technische Frage, es geht um unsere parlamentarische Demokratie

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Stühlerücken: Wohin mit den Abgeordneten, wenn deren Zahl nach der nächsten Bundestagwahl auf mehr als 800 steigt?
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Stühlerücken: Wohin mit den Abgeordneten, wenn deren Zahl nach der nächsten Bundestagwahl auf mehr als 800 steigt?

Die hohle Maske des Reformwillens

Die Zeit für eine Wahlrechtsreform des Deutschen Bundestags drängt. Dies ist mehr als eine technische Frage, es geht um unsere parlamentarische Demokratie

Irgendwann geht jeder Perfektionismus in Lähmung über. Wenn diese alte Erfahrung noch eines Beweises bedurft hätte, dann gibt es im Politischen kaum ein schlimmeres Beispiel als die inzwischen viele Jahre andauernde Diskussion um eine Reform des Wahlrechts. Zur Erinnerung: 709 Sitze hat der Deutsche Bundestag seit der letzten Bundestagswahl – 111 mehr als seine Normgröße von 598 und 80 mehr als in der Wahlperiode zuvor. Öffentlich weitgehend ohne Resonanz, hat der Etattitel des Bundestages im Etatentwurf 2020 erstmals die Milliarden-Grenze überschritten. Und es könnte noch schlimmer kommen: Experten halten es für möglich, dass der nächste Bundestag bis zu 850 Abgeordnete haben könnte.

Ausnahmslos alle Fraktionen sind sich einig, dass ein Festhalten am wahlrechtlichen Status quo bei anhaltender Tendenz des Wählerverhaltens zu einem Wachstums-Automatismus führt, der die Grenzen der parlamentarischen Arbeits- und Organisationsfähigkeit sprengt, von der Finanzierbarkeit ganz zu schweigen. Die Sorge der Parlamentarier ist nicht nur begründet, sie ist auch echt. Sie wissen: Das in der Bevölkerung ohnehin schwindende Systemvertrauen findet dort mühelos einen Beleg für die Zweifel an der Funktionstüchtigkeit des Parlamentarismus. Man muss nicht unbedingt den Vergleich zum chinesischen Volkskongress mit seinen fast 3000 Parteisoldaten bemühen, um zu verstehen, warum es dem Medien-Boulevard mühelos gelungen ist, in der Öffentlichkeit den Schmähbegriff „Bläh-Bundestag“ zu verankern. Die Resonanz ist verheerend, die Abgeordneten, die Fraktionen, die Parteien spüren das.

Aber noch immer wird dieses sehr ernste Glaubwürdigkeitsproblem der parlamentarischen Demokratie auf der rein parteitaktischen Ebene verhandelt. Wer sich als Erstes bewegt, hat verloren.

Bei diesem Mikado-Spiel verlieren alle. Solange man sich gegenseitig mit vergifteten Vorschlägen überzieht, die der eigenen Seite nützen und dem politischen Gegner schaden, bleibt das zur Schau getragene Problembewusstsein der Fraktionen eine hohle Maske. Das hochkomplexe und ausdifferenzierte Wahlrecht bietet für alle Seiten einen solchen Variantenreichtum an offenen oder versteckten „Pferdefüßen“, dass eine Lösung ohne Nachteile unmöglich wird.

Nicht, dass es nicht versucht worden wäre: Hochspezialisierter Sachverstand aus Wissenschaft und Politik hat Vorschläge erarbeitet, wie man sich der „Quadratur des Kreises“ wenigstens praktikabel annähern kann. So ist es den relativ wenigen Fachleuten, die das Wahlsystem in seiner ganzen Komplexität durchblicken, schnell klargeworden, dass es ohne eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise nicht geht. Aber ganz abgesehen von der besonderen Betroffenheit der Parteien, die traditionell die meisten Direktmandate erringen, geht es dort schon um das verfassungsrechtlich heikle Problem des gleichen Stimmgewichts. Wird dann noch an der Stellschraube der föderalen Zuteilung der Listenmandate nach jeweiliger Bevölkerungszahl gedreht, droht ein Reformvorschlag schnell an der Karlsruher Wand zu enden.

Das gilt ebenso für die durchsichtigen Versuche, im Windschatten der offenkundigen Dringlichkeit einer Wahlrechtsreform systemfremde gesellschaftspolitische Projekte wie „Geschlechtergerechtigkeit“ zu lancieren. Das ist selbstverständlich legitim, aber ist es auch sinnvoll, zumal solche Elemente als gesetzliche Vorhaben leicht als Einschränkung von Wahlfreiheit verstanden werden können? Man könnte das System eher über die kritische Frage in den Blick nehmen, ob es eigentlich in seiner derzeitigen Ausgestaltung noch zwischen Direkt- und Listenmandaten die Balance hält. Die ursprüngliche Idee einer paritätischen Vertretung beider Mandatstypen hat sich ja inzwischen so weit verschoben, dass infolge der inflationären Überhang- und Ausgleichsmandate derzeit 111 Listenabgeordnete mehr im Bundestag sitzen als direkt gewählte Abgeordnete. Die Normgröße von 598 Sitzen resultierte ja aus der Zahl der 299 Wahlkreise. Jeder Parlamentarier wird mit einigem Recht empört zurückweisen, dass es da grundsätzlich einen Unterschied in der Tiefe und Qualität der politischen Repräsentanz geben könnte. Und doch erscheint es einigermaßen merkwürdig, dass die direkt gewählten Repräsentanten des Volkes im Parlament derzeit – und wenn nichts geschieht, auch in Zukunft – nur noch eine Minderheit bilden.

Es genügt also nicht, die Kompromiss-Unfähigkeit im Deutschen Bundestag zu beklagen oder die Bereitschaft, sehenden Auges in ein parlamentarisches Fiasko zu laufen. Es handelt sich dort eben nicht allein um ein politisches Versagen. Bezweifelt werden muss zugleich die Praxistauglichkeit des bestehenden Wahlsystems als Ganzes. Da in diesem System des „personalisierten Verhältniswahlrechts“ sehr divergierende Prinzipien und Ziele angelegt sind, wie etwa die Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahl, kommen Zweifel auf, ob es überhaupt noch durch immanente Anpassungen reformiert werden kann. Bezeichnenderweise lässt das Grundgesetz ja die Frage des Wahlsystems offen.

Dies soll übrigens auch nicht andeutungsweise ein Plädoyer für ein reines Mehrheitswahlrecht sein – wie es manche wegen der schönen Simplizität seiner Resultate favorisieren. Wir haben dies ja schon auf der Ebene der Wahlkreise, aber eben nicht als Generalprinzip unseres Parlamentarismus. Ein Verhältniswahlrecht ist immer die gerechtere und zivilisatorisch reifere Abbildung des Wählervotums als das demokratietheoretisch primitivere Modell des Siegers, der alles nimmt. Komplexität und schwierige Handhabung sind als Preis für die Gerechtigkeit eines Wahlsystems zu entrichten – wenn an dieser Komplexität auch durch verfassungsgerichtliche Einflussnahme nicht so lange herumgeschraubt wird, dass die Handhabung allen praktisch und rechtlich über den Kopf wächst.

Das deutsche Wahlrecht und der Unwille des Parlaments, seine zur parlamentarischen Dysfunktionalität tendierenden Fehlentwicklungen zu korrigieren, müssen jeden Demokraten alarmieren. Die Zeit drängt, die Kandidatenaufstellung zur nächsten Bundestagswahl rückt näher. Wenn es weiter wahr sein soll, dass die Überlegenheit demokratischer Systeme gegenüber autoritären Modellen nicht nur in ihrer Legitimation, sondern auch in ihrer Lernfähigkeit besteht, und wenn es ihr parlamentarischer Wesenskern bleiben soll, dass ihre Mandatsträger zum Kompromiss fähig sind, dann muss dieses Parlament das gerade beim Thema Wahlrechtsreform sehr bald unter Beweis stellen. Die Umrisse einer fundamentalen Blamage des gesamten politischen Systems sind längst sichtbar, die Konsequenzen auch. Im Fall des Gelingens aber wäre es mehr als nur die Lösung eines politischen Problems. Es wäre ein kraftvolles Zeichen, der wachsenden Entfremdung zwischen der Bevölkerung und ihren politischen Repräsentanten entgegenzutreten.

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