Die lange Leitung

Deutschland und die EU verschlafen den außenpolitischen Neustart mit den USA

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Die lange Leitung

Deutschland und die EU verschlafen den außenpolitischen Neustart mit den USA

Es ist schon erstaunlich. Da sehnten die Europäer, allen voran die Deutschen, vier lange Jahr das Ende der Ära Donald Trump herbei. Doch seit dessen Abwahl Anfang November und selbst seit dem Amtsantritt Joe Bidens vor vier Wochen ist da: nichts.

Dabei hat gerade Außenminister Heiko Maas in den vergangenen Monaten an großspuriger Rhetorik nicht gespart. Vor den Wahlen versprach er Biden im Falle eines Sieges einen transatlantischen „Neuanfang“, nach dem Sturm des US-Kapitols bot er an, gemeinsam einen „Marshallplan zur Stärkung der Demokratie“ aus der Taufe zu heben. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und jüngst der frisch gewählte CDU-Vorsitzende Armin Laschet beteuerten: Die Vereinigten Staaten sind unser wichtigster Verbündeter. Die EU-Kommission veröffentlichte am 2. Dezember 2020 eine ambitionierte „Neue transatlantische Agenda für globalen Wandel“.

Umso größer, so darf man sicher annehmen, ist derzeit die Verwunderung in Washington.

Dass sich im transatlantischen Verhältnis zukünftig viel um gemeinsame Strategien im Umgang mit China drehen würde, war vor den US-Wahlen völlig klar, auch dass man der neuen US-Regierung aus wohlverstandenem eigenen Interesse Angebote machen sollte, wie man sich gegen das autokratische Ausgreifen der vergangenen Jahre wehren könnte. Das galt auch für Russland. Die Furcht, Trump könne über die Köpfe der Europäer mit Russlands „ewigem“ Präsidenten Wladimir Putin, dem Trump auf höchst seltsame Weise untertänig verbunden ist, eine grand bargain schließen und die Nato verlassen, war durchaus real; umso dringender die Rückkehr zu einer gemeinsamen, westlichen Linie gegenüber dem Kreml.

Statt aber den schnellen Schulterschluss mit Biden zu suchen, gefallen sich Politikerinnen und Politiker der deutschen Regierungsparteien gerade darin, sich gegenseitig bei der Verteidigung der größten außenpolitischen Fehlleistung der Merkel-Ära zu überbieten: Nord Stream 2. Die zweite Ostsee-Gaspipeline, deren Kapazitäten gar nicht gebraucht werden; die es Russland aber erlaubt, die Ukraine zu umgehen und diese wie auch andere Osteuropäer unter Druck zu setzen; die die EU spaltet und das Verhältnis zu den USA belastet; die nicht zuletzt der weiteren Bereicherung Kreml-treuer Oligarchen dient.

All das scheint aber nicht zu zählen: Stattdessen werfen die Befürworter lieber den USA vor, deren Kritik und Sanktionspolitik sei nur vorgeschoben, Washington wolle den Europäern doch nur amerikanisches „Fracking-Gas“ verkaufen. (So las sich dann auch der diese Woche im Wortlaut bekanntgewordene Brief von Finanzminister Olaf Scholz an seinen damaligen Amtskollegen Steven Mnuchin vom vergangenen Herbst.)

Den Anfang machte der einstige SPD-Kanzlerkandidat und Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung, Martin Schulz, der im Spiegel erklärte: „Wir sollten Nord Stream 2 nicht mit dem Fall Nawalny verknüpfen.“ (Genau das hatten Maas und Merkel im ersten Schreck über den Nervengift-Anschlag auf den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Herbst kurzzeitig getan. Heute tun dies eigentlich nur noch die Grünen und die FDP.)

Wenige Tage später äußerte sich Laschet ähnlich. Die Bundesregierung „verfolge den richtigen Kurs“, an Nord Stream 2 festzuhalten. „Wir müssen … unsere Energieversorgung durch dieses privatwirtschaftliche Projekt sichern“, so der CDU-Vorsitzende gegenüber Reuters/Internationale Politik; zugleich sollten „die geopolitischen Interessen der Ukraine garantiert“ werden – eine Quadratur des Kreises. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier brachte vergangenes Wochenende dann das Kunststück fertig, Nord Stream 2 mit deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg in Verbindung zu bringen und in der Rheinischen Post in atemberaubender Überhöhung „Energiebeziehungen“ als „fast die letzte Brücke zwischen Russland und Europa“ zu bezeichnen. Ohne Nord Stream 2, so die unterschwellige Botschaft, wäre in den Beziehungen zu Russland praktisch alles verloren.

Dieses Klammern an die Überreste einer gescheiterten Politik gegenüber Putins Kleptokratie und das Pochen auf eigene außenpolitische „Spielräume“ wurde auf EU-Ebene desaströs komplementiert durch die Moskau-Reise des EU-Außenbeauftragten und Vize-Kommissionspräsidenten Josep Borrell, der sich von Russlands Außenminister Sergei Lawrow nach allen Regeln der Propagandakunst vorführen ließ.

Wie deutsche Spitzenpolitiker zuvor auch (abzüglich des in russischen Diensten stehenden „Altkanzlers“ Gerhard Schröder) forderte auch Borrell die Freilassung Nawalnys, um gleichzeitig zu betonen, Sanktionen plane man wegen dieser Angelegenheit natürlich nicht. So klingt es dann, wenn die EU „die Sprache der Macht spricht“. Da hatte es fast den Anflug leiser Ironie, dass Lawrow die EU unwidersprochen einen „unzuverlässigen Partner“ schalt. Tatsächlich schien Borrell mit gänzlich leeren Händen und ohne Vorstellungen einer zukünftigen EU-Politik gegenüber Russland nach Moskau geflogen zu sein.

Das sture deutsche Beharren auf Sonderwegen beziehungsweise naive europäische Konzeptionslosigkeit wiegen umso schwerer, weil sie höchst irritierende Signale an die neue Regierung in Washington senden.

Schon der überhastete, auf deutschen Druck erfolgte Abschluss des europäisch-chinesischen Investitionsabkommen CAI kurz vor dem Jahreswechsel musste auf die neue Biden-Regierung so wirken, als wäre Deutschlands und Europas „wichtigster Verbündeter“ am Ende dann doch nicht so wichtig. Auch gegenüber Peking wollen sich Berlin und Brüssel, in Verkennung weltpolitischer Gegebenheiten, offenbar nicht zu eng an die Vereinigten Staaten binden, wenn es darum geht, einen gemeinsamen Kurs gegenüber der totalitär regierten, aufstrebenden Supermacht zu finden.

So hatte Biden allen Grund, sich beim Gedanken an die Europäer ein bisschen allein zu fühlen, als er in seiner ersten außenpolitischen Rede im State Department erklärte: „Amerikas Bündnisse sind unser größtes Kapital, und durch Diplomatie führen, heißt, wieder Schulter an Schulter mit unseren Verbündeten und Partnern zu stehen.“ „Amerika ist zurück“, schrieb der frühere US-Diplomat Daniel Baer, unter Obama US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), dieser Tage in Foreign Policy und fragte: „Europa, bist du da?“

Bis auf Weiteres lautet die Antwort leider: nein. Und das ist, nach all der Zeit, die Deutschland und die EU in den Trump-Jahren hatten, sich auf diesen eigentlich höchst glücklichen Moment vorzubereiten, ziemlich beschämend.

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