Die Legende von Kamalot

Joe Bidens Vizepräsidentschafts-Kandidatin Kamala Harris ist der Anti-Trump

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PICTURE ALLIANCE/REUTERS
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Die Legende von Kamalot

Joe Bidens Vizepräsidentschafts-Kandidatin Kamala Harris ist der Anti-Trump

Tag 1311 der Trump-Administration. Es bleiben noch 73 Tage bis zur nächsten US-Präsidentschaftswahl. Mit dem Parteitag der Demokraten hinter uns und der frisch gekürten demokratischen Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Devi Harris – einer Entscheidung auf Sieg oder Niederlage –, die nun fest am politischen Firmament Amerikas installiert ist, ist es vielleicht nicht zu früh, darüber nachzudenken, wie die Chancen stehen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ihren dreieinhalbjährigen Sturzflug beenden und einen erwachsenen Präsidenten wählen.

Seit dem Ende des ersten Monats der Covid-19-Pandemie, etwa zu der Zeit, als die Vorwahlen der Demokraten in South Carolina die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten in Richtung von Joe Biden gelenkt haben, der nun auch offiziell aufgestellt wurde, ist Präsident Donald Trump, wenn man der Aussagekraft der Wahlumfragen glauben mag, die Gunst zuteil geworden, bei den prozentualen Anteilen aller abgegebenen Stimmen zwischen fünf und neun Punkten und seit Mitte Juni durchweg um mindestens acht Punkte hinten zu liegen. Alle Beobachter der US-Politik wissen, dass der Gewinn des Wahlkollegiums, also eine ausreichende Mehrheit an Wahlmännern aus den 50 Bundesstaaten plus Washington, D.C., die beinahe alle nach Mehrheitswahlrecht wählen und je nach Einwohnerzahl eine bestimmte Anzahl an Wahlmännern und -frauen in ebenjenes Wahlkollegium entsenden, die Wahl entscheidet – und nicht das faktische Votum der Bevölkerung in prozentualen Stimmanteilen – the popular vote. Dennoch würde ein Vorsprung Bidens von acht Prozentpunkten bei der absoluten Stimmenanzahl den größten Abstand zwischen den Kandidaten seit Bill Clintons erdrutschartiger Wiederwahl 1996 bedeuten. Und dies wäre nach allem, was man im Moment hört, dann doch eine zu große Hypothek für Trump, als dass er erneut auf eine Mehrheit im Wahlkollegium wetten könnte und die Bemühungen um die faktischen Stimmenanteile de facto vernachlässigen könnte. Das aber müsste er tun, um sich eine zweite Amtszeit zu verschaffen.

War es also angesichts dieser für Biden statistisch aussichtsreichen Ausgangssituation – 2016 hatte Hillary Clinton Ende August nur vier Punkte Vorsprung – eine gute Entscheidung, die kalifornische Senatorin Kamala Harris am 11. August als Vizepräsidentschaftskandidatin zu bestimmen? Beurteilt man dies auf Basis der Rezeption dieser Entscheidung in den sozialen Medien und verschiedener Blitzumfragen, kann die Antwort nur „Ja“ lauten. Doch bestimmte Stationen einer Kampagne wie die Wahl des Vizepräsidentschaftskandidaten haben die Tendenz, zumindest vorübergehend für Turbulenzen zu sorgen. So hat John McCains Ernennung von Sarah Palin als Vizepräsidentschaftskandidatin Ende August 2008 einen Acht-Punkte-Nachteil in einen – allerdings kurzlebigen – Fünf-Punkte-Vorsprung verwandelt. (Ja, das ist tatsächlich passiert.) Bedeutsamer sind aber die ersten Reaktionen des Trump-Teams auf die Wahl von Harris. Je nachdem, welche politische Fachkraft aus Trumps chaotischer Kampagnentruppe sich äußert, ist Harris, vormalige Generalstaatsanwältin in Kalifornien, entweder zu weich in der Verbrechensbekämpfung – sie ist ja schließlich eine leidenschaftlich Linksliberale! – oder aber Feind Nr. 1 der „Black Lives Matter“-Proteste – denn sie war ja Kaliforniens Top-Polizistin! Selbstverständlich ist keine dieser Darstellungen wahr.

Als eine von insgesamt nur vier Schwarzen Frauen, die jemals das Amt einer Generalstaatsanwältin in den USA bekleideten, war Harris immer eine durch und durch fortschrittliche Frau. Trotzdem erhielt sie im vergangenen Winter während der Feuerprobe einer vielversprechenden, aber gescheiterten Präsidentschaftskandidatur für die Demokraten viel öffentliche Kritik vom linken Parteiflügel – weitgehend jedoch unbegründet. Die Parteilinke zeichnete das Bild einer Hardlinerin: zu strikt in Sachen Kriminalitätsbekämpfung, eine Gegnerin der Legalisierung von Marihuana und eine Befürworterin des Einsperrens von Eltern, deren Kinder zu viele Schultage versäumen. Es war alles übertrieben, wurde aber immerhin laut genug geäußert, um bei der Trump-Kampagne in ihrem Versuch, Harris’ Schwachpunkte auszumachen, für Verwirrung zu sorgen. In der Tat scheint Harris, je nachdem, wessen Kriterien angelegt werden, die liberalste, die zweit- oder auch fünftliberalste Person im US-Senat zu sein, mitunter sogar fortschrittlicher oder linker als Bernie Sanders.

Eine weitere von Harris’ für ihre Gegner entmutigenden Qualitäten ist, dass sie in mehrfacher Hinsicht sowohl ein Anti-Trump als auch ein Anti-Biden ist. Zusätzlich zu der offensichtlichen identitätspolitischen Tatsache, dass Harris eine farbige Frau mittleren Alters ist – Tochter einer indischen Mutter und eines schwarzen Vaters – während Trump und Biden (übrigens auch Vizepräsident Mike Pence) alte weiße Männer sind –, ist sie auch eine mit kühlem Kopf agierende Politikerin. Trump und Biden erlangen, in unterschiedlichem Maße, ihre Unterstützung durch emotionale Appelle. Dies soll nicht heißen, dass Harris kein warmherziger und charismatischer Mensch ist, denn das ist sie in der Tat. Es soll nur deutlich machen, dass sie intellektuell so viel mehr zu bieten hat, wie ihre meisterhafte Befragung von Trump-Gefolgsleuten bei Senatsanhörungen beweist. Die oberflächlichen Ähnlichkeiten zwischen Trump und Biden, einschließlich ihrer gemeinsamen Neigung zu verbalen Ausrutschern, sind ein wichtiger Grund dafür, dass Trump mit seinen Schlägen gegen Biden allem Anschein nach bisher noch nicht landen konnte. Und da sich Harris nun als schwer zu treffendes Ziel erwiesen hat, konnte Trumps einzige politische Strategie von Angriff und Ablenkung bis jetzt nicht so wie im Jahr 2016 greifen.

Wem die Harris häufig attestierte Nebulosität als Mensch eher unwichtig erscheinen mag, der sollte bedenken, dass Trumps einziges politisches Geschick das eines Marktschreiers, Windmachers, einer rhetorischen Dreckschleuder ist. Wenn ein Verkäufer seinen Zuhörern nicht verständlich machen kann, was er verkauft, verkauft er nicht. Trump ist bereits mit diesem Problem konfrontiert worden, als er Biden – erfolglos – in verschiedene abwertende Schubladen stecken wollte, entweder als Kreatur aus dem Sumpf des Washingtoner Establishments, als Vehikel für links außen stehende Liberale, als berechnender und korrupter Global Player oder als tattriger alter Onkel.

Keiner dieser Angriffe hat bisher verfangen. Das liegt wohl daran, dass Biden ein bisschen von all diesen Figuren hat und trotzdem keine davon ist. Die Amerikaner kennen Biden, sie kennen ihn seit Jahrzehnten gut, für Gutes wie für Schlechtes.

Kamala Harris, da den Amerikanern viel weniger bekannt, hätte also eine gute Zielscheibe abgeben können für Trumps pervers-obsessives Geschick für Diffamierungen. Denn mit seiner düsteren Bilanz als Präsident kann er nur hoffen, Stimmen zu gewinnen, indem er auf allgemeine oder spezifische Weise Panikmache betreibt, da es ihm nicht gelingen wird, aus den genannten Gründen die konkrete Person eines Gegners wirksam mit der von ihm verbreiteten Niedertracht zu diskreditieren. Und so wird die Wahl letztlich zu einer Wahl werden, die auf Grundlage von Verdiensten entschieden wird. Und weil 175.000 Amerikaner infolge von Covid-19 gestorben sowie mehr als 50 Millionen arbeitslos sind, viele Zehnmillionen weitere durch republikanische Bemühungen, Obamacare unwirksam zu machen, bedroht sind, ihre Gesundheitsversorgung zu verlieren, Millionen von Wählern durch Versuche, die Briefwahl zu sabotieren, vor der Entziehung ihres Wahlrechts stehen und – für diejenigen Amerikaner, die noch etwas darauf geben, was Nichtamerikaner von ihnen denken – weil das Land in Übersee den schlechtesten Ruf in den 246 Jahren der Republik genießt, lässt sich wirklich nicht sagen, dass auf Trumps Seite nennenswerte Verdienste stünden.

Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Tynior

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