Die Mutigen von Minsk

Radikale Repressionen gegen furchtlose Freundinnen der Freiheit – Belarus ein Jahr nach Lukaschenkas Wahlmanipulation

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ATP PHOTO AGENCY | ERNST JEAN-CLAUDE
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Die Mutigen von Minsk

Radikale Repressionen gegen furchtlose Freundinnen der Freiheit – Belarus ein Jahr nach Lukaschenkas Wahlmanipulation

Genau ein Jahr ist es her, dass im Nachgang der manipulierten Präsidentschaftswahlen in Belarus und der darauffolgenden ersten Welle massiver staatlicher Repressionen eine gesellschaftliche Mobilisierung an Momentum gewann. Deren Ausmaß und Beharrlichkeit überraschten sowohl die Führung des Landes um Aleksandr Lukaschenka als auch Russland und die EU. In den ersten Monaten protestierten Hunderttausende in Minsk und vielen anderen Städten des Landes. Auch wenn es in Belarus zuvor bereits Proteste gegeben hatte, so markierte 2020 eine gesellschaftliche Zäsur. Eine Zivilgesellschaft formierte sich vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit, und Belarus wurde auf der mentalen Landkarte Europas sichtbar. Zahlreiche Bilder der Gewalt an friedlich Protestierenden und die Kreativität der Proteste und Aktionen gingen um die Welt. Belarus wirkte auf einmal ganz nah – geografisch und in seiner Werteorientierung.

Viel ist in Belarus in diesem Jahr passiert, und doch erscheint die Wirkung der Massenproteste aus heutiger Sicht zunächst begrenzt. Lukaschenka ist nach wie vor an der Macht, die zentralen politischen Eliten und Sicherheitskräfte sind an seiner Seite geblieben, Lukaschenka hat wieder verstärkt die Unterstützung seines russischen Amtskollegen Wladimir Putin gesucht, und die personenbezogenen und wirtschaftlichen Sanktionen der EU, Großbritanniens und der USA vermögen die politische Dynamik derzeit nicht direkt zu beeinflussen. Für die EU, vor allem für die Nachbarländer Litauen und Polen, waren die begrenzten Einflussmöglichkeiten und der langwierige Abstimmungsprozess eine schmerzhafte Lektion.

Im Exil

Es war auch ein Jahr, in dem Zehntausende von Belarusinnen verhaftet und Opfer von Gewalt wurden und Tausende ins Exil gingen, insbesondere in die baltischen Staaten und Polen, aber auch nach Deutschland, Großbritannien und in die Ukraine. Diese Exil-Belarusen haben eine internationale Präsenz entfaltet, doch allein aus dem Exil werden sich umfassende Veränderungen des Systems nicht herbeiführen lassen. Politische Emigration bietet einem autoritären System auch einen gewissen Schutz, da sie den Druck von innen reduziert. Die von Lukaschenka unterschätzte Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja wurde zur Symbolfigur der Opposition. Sie wurde als eine der Ersten ins Exil gedrängt und bemüht sich seitdem unaufhaltsam, die Entwicklungen in Belarus im Zentrum europäischer und amerikanischer Aufmerksamkeit zu halten.

Massenproteste sind generell ein seltenes Phänomen. Noch seltener sind Proteste, die nicht von einer Koalition aus etablierten zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und einer institutionalisierten politischen Opposition getragen werden, sowie Proteste, die den Druck auf das bestehende System über einen langen Zeitraum erhalten. Die Proteste in Belarus vereinten alle diese seltenen Merkmale. Und dennoch ist der entscheidende Schritt ausgeblieben: die Abspaltung von Schlüsseleliten aus Politik und Sicherheitsapparat.

Repressionssuperlative

Ein autoritäres System bricht zusammen, wenn diese Eliten ihre Loyalität als ein höheres Risiko einstufen als den ungewissen Weg in eine politische Transformation. Dieser Punkt blieb unerreicht – der gezielte Aufbau eines großen Polizei- und Sicherheitssektors in den Jahren zuvor sowie eine Mischung aus Entlassungen einzelner Führungspersonen und finanziellen Anreizen festigten das auf Polizei, Sondertruppen und die Armee gestützte System. Lukaschenka lehnte jede Möglichkeit von Verhandlungen ab, suchte die Unterstützung Putins und setzte intern ausschließlich auf Repressionen. Das Resultat ist ein repressives System der Superlative, das spätestens seit Anfang 2021 öffentliche Proteste im Keim erstickt, eine unabhängige Berichterstattung und Dokumentation der Entwicklungen unterbindet, fast die gesamte sichtbare politische Opposition verhaftet oder ins Exil zwingt und sogar im Ausland belarusische Staatsbürger verfolgt. Die Repressionen Lukaschenkas scheinen keine Grenzen zu kennen.

Das Paradox liegt in der Tatsache, dass das politische System einerseits in seinem Kern stabil erscheint und größere Proteste auf absehbare Zeit unmöglich sind und dass andererseits das Ausmaß der Repressionen und die grotesk anmutende staatliche Propaganda Zeichen der inhärenten Schwäche sind. Die Frage ist, wie lange diese Art der Pseudostabilität erhalten werden kann. Staat und Gesellschaft existieren in Parallelwelten. Das gesellschaftliche Vertrauen in staatliche Institutionen ist gering. Auch wenn der Anteil derer, die aktiv an den Protesten teilgenommen haben, auf die Gesamtbevölkerung gerechnet natürlich eine Minderheit bleibt, so reicht die Politisierung der Gesellschaft viel weiter. Auch diejenigen, die den Protesten skeptisch gegenüberstanden, sind weit entfernt von einer mehrheitlichen aktiven Unterstützung Lukaschenkas. Seine Legitimität hat der Präsident verspielt. Auch eine weitere Integration mit Russland ginge am Grundkonsens der Bevölkerung vorbei, die auf die nächste Gelegenheit eines Neuanfangs wartet.

Bis dahin wird mehr Zeit vergehen, als man in den ersten Monaten nach der Wahl vermuten konnte oder wollte. In der Zwischenzeit sollte die EU die Signalwirkung ihrer Sanktionen aufrechterhalten und die direkten Kontakte zur Gesellschaft im Land und im Exil ausbauen, damit das außergewöhnliche Jahr nicht in Vergessenheit gerät und für den Moment des politischen Systemwandels Unterstützung bereitsteht.

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