Draußen vor der Tür

Das neue Bündnis AUKUS ist ein verschärfter Weckruf für Europa, endlich zu einem echten geopolitischen Player zu werden

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Kann Europa noch eine Hand im Spiel haben?
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Kann Europa noch eine Hand im Spiel haben?

Draußen vor der Tür

Das neue Bündnis AUKUS ist ein verschärfter Weckruf für Europa, endlich zu einem echten geopolitischen Player zu werden

US-Präsident Biden spricht von einem „historischen Schritt“, der Allianzen für neue Herausforderungen schaffen wird. Der französische Außenminister bezichtigt Washington der Lüge, spricht von „Dolchstoß“ und ruft seinen Botschafter zur Berichterstattung nach Paris. Der europäische Außenbeauftragte Josep Borell, der gerade in Brüssel eine neue europäische Strategie für den asiatisch-pazifischen Raum vorstellen will, sieht sich düpiert von der überraschenden Nachricht.

In Deutschland bewegt die Sache keine der politischen Parteien im Endspurt auf die bevorstehende Bundestagswahl. Sie spielte in den drei Triellen kaum eine Rolle, erst in der „Schlussrunde“ am Donnerstagabend sprachen die Spitzenkandidaten der Parteien überhaupt über außen- oder europapolitische Themen, nachdem ein Leitartikel nach dem anderen den Mangel beanstandet hatte. Das muss jeden besorgen, der sich die Auswirkungen der außenpolitischen Lage und die fehlende politische Debatte – eine Voraussetzung für politische Projekte größerer Tragweite – klarmacht.

Worum geht es?

Die USA haben bekanntgegeben, dass sie ein neues verteidigungspolitisches Bündnis schließen wollen mit Australien und Großbritannien. Kurzform: AUKUS. Enge nachrichtendienstliche Zusammenarbeit und der Austausch von Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz und Quantentechnologie sind Schwerpunkte des Dreierbündnisses. Konkret wird Washington Australien nukleare Antriebstechnologien für Atom-U-Boote zur Verfügung stellen, ein Novum in der neueren amerikanischen Militärgeschichte.

Aber rechtfertigt das die heftigen Reaktionen?

Die Verärgerung in Paris ist nachvollziehbar: Das Bündnis ignoriert die französische Strategie im Südpazifik, an der Paris seit langem mit Australien arbeitet; sie ist ein Schlag gegen die französische Rüstungsindustrie, die durch AUKUS einen Milliardenauftrag verloren hat. Denn seit Jahren verhandelt Frankreich mit Australien über die Lieferung von dieselbetriebenen U-Booten, ein Jahrhundertvertrag aus französischer Sicht, der jetzt durch AUKUS außer Kraft gesetzt ist, ohne vorherige Warnung oder gar Konsultation durch Washington oder Canberra. Dass der französische Botschafter in Washington von einem schweren Vertrauensbruch, von einem präzedenzlosen Vorgang zwischen Alliierten spricht, verdeutlicht das Ausmaß der Verärgerung. Ein Grund für alle Europäer, Paris in dieser Frage den Rücken zu stärken.

Doch es geht um mehr als um U-Boote.

Um sehr viel mehr. Es geht um einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der geostrategischen Machtverteilung. Ein Paradigmenwechsel, in dem Europa offensichtlich nur eine Statistenrolle zukommt.

Die kollektive Empörung der Europäer über die erratische Außen- und Sicherheitspolitik eines Donald Trump, der die multilaterale Architektur der Nachkriegswelt einzureißen drohte, und ihre mindestens ebenso große Erleichterung über die Wahl seines Nachfolgers Joe Biden, der das Rad wieder zurückzudrehen schien, waren überzogene emotionale Reaktionen auf den bereits beginnenden Paradigmenwechsel.

Denn schon Barack Obama hatte mit seinem pivot to Asia eine politische Gewichtsverlagerung vom Atlantik nach Ostasien und in den Pazifik angekündigt. Doch die Zeichen wurden in Europa fehlinterpretiert. Bei Obama, weil Krisen in der Ukraine und im Mittleren Osten einen Umstieg verzögerten; bei Biden, weil man dessen Bekenntnis zur Nato vorschnell als Renaissance der transatlantischen Allianz alter Prägung, als neuen alten Kern amerikanischer Sicherheitspolitik bewertete.

Tatsächlich sind die USA bereit, der atlantischen Allianz auch weiterhin Bedeutung zu geben; allerdings unter einer wesentlichen Bedingung: dass die europäischen Partner auch operativ bereit sind, substantiellere Beiträge für ihre eigene Sicherheit zu erbringen. Das Zwei-Prozent-Ziel ist vor allem eine symbolische Zahl. „Burdensharing“ ist künftig nicht nurmehr ein politisches Petitum, sondern eine conditio sine qua non.

Was Europa bislang nicht wirklich realisiert (weil nicht sein kann, was nicht sein darf), ist, dass die Entschlossenheit Washingtons, der großen neuen geopolitischen Herausforderung des 21. Jahrhunderts mit einem Strategiewechsel zu begegnen, das geopolitische Spielfeld neu definiert und Europa ein Stück weit sich selbst überlässt.

Es geht um China

In den USA gibt es ein Thema, bei dem parteiübergreifend Konsens herrscht: Der Aufstieg Chinas stellt eine Bedrohung der amerikanischen wirtschaftlichen, geopolitischen und militärischen Macht dar.

Diesem Paradigma wird alles nachgeordnet. Nicht zuletzt, weil Biden dort eine Chance sieht, innenpolitisch Kritik abzufangen, die seine Außen- und Sicherheitspolitik systematisch torpediert.

Aus Sicht Washingtons ist Peking auf dem besten Wege, das durch den vermeintlichen amerikanischen Rückzug aus der Welt geschaffene Vakuum zu füllen. Die Belt and Road Initiative – die neue Seidenstraße mit ihrer proaktiven Strategie der Schaffung von Abhängigkeiten in Zentralasien und Afrika, die chinesische Druckkulisse im südchinesischen Meer und gegenüber Taiwan oder der völkerrechtswidrige Rückbau des Rechtsstaats in Hongkong werden als Teile einer expansiven Politik Chinas gelesen. Auch das chinesische Ziel, der pazifischen Handelszone CPTPP beizutreten, einer Nachfolgerin des TTP-Abkommens der Pazifikanrainer, das Trump aufgekündigt hatte, passt in dieses Schema. China strebt nach Auffassung der USA eine Vormachtrolle im Pazifik an. Dem will Washington einen Riegel vorschieben.

Der amerikanische Rückzug aus dem Mittleren Osten und der aus europäischer Sicht völlig überstürzte Abzug aus Afghanistan sind nach dieser Lesart die durchaus logische Folge einer strategischen geopolitischen Neuordnung mit klarem Fokus auf dem Indo-Pazifik.

Schon die von Biden am Rande des G7-Gipfels in Cornwall in diesem Sommer proklamierte „Allianz der Demokratien“, zu der Indien, Südafrika, Südkorea und Australien eingeladen waren, war als Schulterschluss gegen China und Russland interpretiert worden. Sie schloss aber die Europäer noch mit ein. Der bevorstehende Quad-Gipfel mit Indien, Japan, Australien und USA und der jetzt geschlossene AUKUS-Pakt zeigen aber die gewachsene Entschlossenheit der USA, Peking in seine regionalen Schranken zu weisen, notfalls ohne Europa, das man aufgrund seiner übergroßen wirtschaftlichen Abhängigkeit von China als unsicheren Kantonisten betrachtet. Ausnahme: das Nicht-EU-Mitglied Großbritannien.

Es geht also nicht um ein wirtschaftliches „decoupling“, eine Entflechtung. Es geht um eine neue Form der Eindämmung einer aufstrebenden Großmacht, ein militärisches und technologisches containment Chinas. Bei AUKUS geht es Washington um Machtprojektion im Pazifik, um eine geostrategische Weichenstellung zu Lasten des Gegenspielers China.

Was geht das Europa an?

Sehr viel. Der amerikanische Paradigmenwechsel verändert unsere Rolle in der atlantischen Allianz schwerwiegend. Er wird den Zwang zu einer eigenständigen europäischen außen- und sicherheitspolitischen wie außenhandelspolitischen Handlungsfähigkeit signifikant verstärken. Zwei Gründe verdeutlichen das.

Erstens: In dem Maße, in dem Washington sein Gewicht nach Ostasien verlagert, wird es mehr Übernahme von Verantwortung durch die europäischen Verbündeten erwarten. Das ist nachvollziehbar.

Die Rücksicht der USA auf seine europäischen Partner wird künftig geringer sein als bisher. Die harte, pandemiebedingte Haltung Washingtons gegenüber europäischen Bürgerinnen und Bürgern und der am Ende rücksichtslose Abzug der amerikanischen Truppen ohne intensive Vorkonsultationen mit den Partnern sind nur Vorboten einer stärker von Eigeninteressen getriebenen amerikanischen Politik. Das ist unbequem und neu für uns Europäer, aber legitim.

Die EU sollte daraus ohne Verzug die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Wir müssen zunächst unsere eigenen Interessen identifizieren, auf dieser Grundlage eigene Handlungsziele definieren und nicht wie bisher auf Vorgaben Washingtons warten. Erst dann werden wir mit unseren atlantischen Partnern abstimmen können, wer welche Aufgabe übernimmt und wer nicht.

Tendenziell wird es darauf hinauslaufen, dass Europa seine Handlungsfähigkeiten signifikant stärkt und dort einbringt, wo es um genuin europäische Interessen geht. Wegducken und den USA die Arbeit überlassen, auch wenn es um die eigene Nachbarschaft geht, wird nicht mehr möglich sein. Etwa bei Krisen und Konflikten in Osteuropa oder im Mittelmeerraum. Dazu ist politischer Wille erforderlich, europäische Handlungsbereitschaft, vor allem aber der Ausbau europäischer Fähigkeiten. Daran fehlt es bisher.

Das bedeutet nicht, dass sich die USA aus ihrer Rolle als „europäische“ Macht ganz zurückziehen werden. Auch künftig werden Europa und USA mehr gemeinsame Interessen und Werte verbinden, als dies mit anderen Regionen der Fall ist. Und strategisch komplexe Herausforderungen wird Europa auch nur mit Hilfe der USA bestehen können. Aber wir werden autonomer werden müssen.

Zweitens: Die durch AUKUS im indo-pazifischen Raum geschaffene Konstellation verdeutlicht die auf Europa zukommende, von den USA deutlich unterschiedene Rolle. Geopolitisch hat Europa keine genuin eigenen Interessen im Indo-Pazifik, wohl aber wirtschafts- und ordnungspolitische. Es geht um die Wahrung der Freiheit der Schifffahrt im südchinesischen Meer, um die Freiheit des Welthandels, auch um die Verteidigung eines funktionsfähigen multilateralen Systems. Friedlicher Ausgleich zwischen allen pazifischen Anrainern liegt in unserem strategischen Interesse. Europa sollte den sich anbahnenden pazifischen Machtkampf mit China anders als Washington unideologisch angehen, auf Basis der eigenen Interessen und Werte.

China war immer schon systemischer Rivale eines auf Demokratie und Rechtsstaat gründenden Europa; aber es wird von uns erst als Rivale wahrgenommen, seit es sich zu einer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Großmacht entwickelt hat. China hat natürlich das Recht, seine Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen zu entwickeln, aber es muss sich dabei an international gültige Regeln halten. Dazu gehören auch die fundamentalen Menschenrechte. Aber wir werden China nicht zu einem Wandel seines Gesellschaftssystems zwingen können. Technologisch sind chinesische Unternehmen Wettbewerber europäischer Unternehmen. Das ist legitim, solange sie sich im Wettbewerb an dieselben Regeln halten. Und China bleibt für Europa ein wichtiger Partner, etwa bei der Bewältigung globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel.

Diese Komplexität erfordert ein differenziertes europäisches Herangehen an den neuen geopolitischen Zweikampf. Der Streit um Begrifflichkeiten wie die „strategische Autonomie Europas“ ist nicht zielführend, aber sehr typisch für die europäische, auch deutsche Neigung, Nebenschauplätze zu besetzen, anstatt klar Interessen zu definieren.

Es muss endlich Schluss sein mit unserer Vogel-Strauß-Politik. Unsere Politiker müssen den Bürgern reinen Wein einschenken: im bloß nationalstaatlichen Rahmen zu denken, ist nicht mehr möglich. Nur als starkes, unabhängiges Europa können wir die Interessen unserer Bürger wahren. Das erfordert endlich politischen Willen, Handlungsbereitschaft und die Handlungsfähigkeiten, die erforderlich sind, um europäische Interessen notfalls allein zu verteidigen. Dazu gehört auch militärische Hardware. Es ist nicht gut, wie sich alle politischen Parteien im gerade zu Ende gegangenen Wahlkampf um klare Aussagen zu diesen Zukunftsthemen herumgedrückt haben.

Wir brauchen jetzt einen Ruck in der Gesellschaft, der über ein diffuses Bekenntnis zu einem starken Europa hinausgeht. Wir müssen unsere Wirtschaft global diversifizieren, technologisch in Schlüsselbereichen eigene Fähigkeiten aufbauen und unverhältnismäßige Abhängigkeiten, etwa von China, verringern. Wir müssen alte Allianzen wie die Nato neu definieren und multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen modernisieren – nicht gegen andere, sondern mit Beteiligung auch systemischer Gegner.

Das alles geht nicht über Nacht, duldet aber keinen Aufschub mehr. Europa kann und sollte in diesem Prozess globaler Neuordnung durch Brückenbau eine zentrale Rolle spielen. Frankreich und Deutschland haben in diesem Prozess eine besondere Verantwortung. Die neuen Regierungen in Berlin und ab Mai 2022 in Paris stehen vor gigantischen Herausforderungen. Wenn die Veränderung nicht gelingt, bleibt für Europa nur die Statistenrolle. Wie kürzlich in Afghanistan.

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