Ein verletzlicher Kämpfer

Zum Tode von Wolfgang Clement – ein Nachruf

03
10
IMAGO/WOLF P. PRANGE
03
10
IMAGO/WOLF P. PRANGE

Ein verletzlicher Kämpfer

Zum Tode von Wolfgang Clement – ein Nachruf

Schon sein Weg ins Berufsleben begann mehrgleisig – denn bevor Wolfgang Clement vor 60 Jahren sein Jurastudium in seiner Geburtsstadt Bochum aufnahm, volontierte er in Dortmund bei der Westfälischen Rundschau. Doch dem bekennenden Kind des Ruhrgebiets reichte der bloße Grenzgang zwischen Journalismus und Jurisprudenz nie. Zwar fand er erst ein Jahrzehnt später seinen Weg in die Politik, den geistigen Beginn seiner politischen Karriere markierte er 1970 indes mit seinem Eintritt in die SPD, der er politisch fast alles, die ihm umgekehrt aber auch sehr vieles verdankt.

Auch wenn uns altersmäßig eine Generation trennt – das 1940 als Sohn eines Maurers geborene „Kriegskind“ Wolfgang Clement habe ich, seitdem ich Politik machte, immer als natürlichen Teil der damals starken Persönlichkeiten meiner Partei empfunden. Eine Volkspartei, die alle Angehörigen durch die gesellschaftliche Pyramide hindurch von oben bis unten erfolgreich sammelte, ihnen politische Heimat gab und deren Anliegen im Sinne des Ganzen vertrat. Diese Zeit ist leider vorbei.

Umso mehr freute ich mich, 1999 Wolfgang Clements politisches Wirken live erlebt zu haben, da wir beide zeitgleich Ministerpräsidenten waren – sogar in benachbarten Bundesländern. Allerdings war er zu dem Zeitpunkt bereits erfahrener Ex-Superminister in seinem an Strukturwandel und -brüchen nicht armen Heimatland, dem er wichtige Impulse beim Umbau zu einem modernen Industrieland gab. Nie würde er widersprechen, wenn man ihn einen wichtigen sozialdemokratischen Modernisierer und Reformer nennen würde. Denn genau das war er in Düsseldorf wie in Berlin.

Ob beim Ausbau der erneuerbaren Energien, der Schaffung von neuen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, bei der Existenzgründungsförderung oder der Medien- und Telekommunikationswirtschaft – als Superminister im bevölkerungsreichsten Bundesland ließ er schon mal anklingen, was ihn Jahre später als Superminister auf Bundesebene auszeichnete: tiefe Spuren beim notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Umbau unseres Landes zu hinterlassen, um Wohlstand zu sichern, aber zugleich auch deutlich zu machen, dass das politische Management der stärksten Industrienation Europas bei der SPD in guten Händen war.

Clement hatte Format, auch weil er als NRW-Ministerpräsident streitbar die Interessen seines Landes gegenüber dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder vertrat. Ob in nächtelangen Verhandlungen über den Länderfinanzausgleich, in denen Clement schon mal mit anderen Ministerpräsidenten im Keller Skat spielen ging, weil er von den Verhandlungen der Finanzminister ohnehin kein Ergebnis erwartete – was am Ende auch zutraf –, oder die legendären Zusammenkünfte der SPD-Ministerpräsidenten mit „ihrem“ SPD-Bundeskanzler Schröder in der Bremer Landesvertretung in Berlin, bei denen Wolfgang Clement schon mal die Sitzung verließ, wenn es ihm – wie er meinte – „zu bunt“ wurde: Wo Clement dabei war, wurde es nie langweilig.

Wenn heute bereits ein einzelnes Wort der Bundeskanzlerin dazu führt, dass am nächsten Tag von „schweren Zerwürfnissen“ die Rede ist, kann man als Teilnehmer der Bremer Runden die heutigen Länderchefs nur dazu beglückwünschen, damals nicht dabei gewesen zu sein. Die Debatten zwischen Clement und Schröder waren jedenfalls legendär – was den früheren SPD-Bundeskanzler nicht daran hinderte, Clement später in sein Bundeskabinett zu berufen. Raufbolde mögen sich eben.

Bevor er auf Schröders Bitten als erster SPD-Superminister für Wirtschaft und Arbeit aus dem Ministerpräsidentenamt ins Bundeskabinett wechselte, machte er infolge des PISA-Schocks über die unbefriedigenden Schüler- und Schulleistungen in NRW klar, dass neben der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durchgreifende Reformen im Bildungsbereich nötig seien. Bildung, dauerhafte Qualifizierung und Beschäftigung gehörten für ihn immer zusammen – genau das machte er auch in seiner dreijährigen Amtszeit als Bundesminister deutlich. Wie überhaupt die ganze zweite Kanzlerschaft Schröders war sie geprägt von den sogenannten „Hartz“-Reformen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Für Clement jedenfalls war klar, dass eine hoch leistungswillige und leistungsfähige Volkswirtschaft die Voraussetzung dafür ist, auch in Zeiten einer sich immer schneller vernetzenden globalen Ökonomie soziale Sicherheit zu gewährleisten.

Allerdings, auch das muss gesagt werden, spätestens seit der Finanzkrise und nun der Corona-Pandemie zeigt sich auch, dass wir froh sind, noch vieles von der „alten“ sozialen Marktwirtschaft behalten und nicht alles der „neuen“ geopfert zu haben.

Dass es diese Reformen waren, welche Deutschland zeitweise tief aufwühlten, dann der deutschen Volkswirtschaft über mehr als zehn Jahre einen enormen Erfolgslauf ermöglichten und trotzdem die SPD nachhaltig erschütterten, war für Clement vermutlich keine Überraschung. Er, der sein durchaus hartes „Macher- und Modernisierer-Image“ bisweilen genoss, war in seinem Inneren ein feinfühliger, wenn auch ruheloser Geist, der indes stets wusste, welch bittere Medizin er dem deutschen Sozialstaat und der sich mit diesem Staat tief identifizierenden Sozialdemokratie zumutete. Legendär der Satz, der diesem politischen Temperamentbolzen zugeschrieben wurde, aber in Wahrheit vermutlich von seiner Ehefrau Karin stammt: „Herr, gib mir Geduld, und zwar sofort.“

Wolfgang Clement war Zeit seines Lebens ein Kämpfer. Zupackend, humorvoll, gelegentlich auch dickköpfig und doch sensibel.

Das Ende seiner Amtszeit als Bundesminister und kurze Zeit später als stellvertretender SPD-Vorsitzender markierte auch den Beginn des Entfremdungsprozesses zwischen ihm und der SPD. Für ihn war die von großen Teilen der sozialdemokratischen Funktionäre herbeigesehnte „Linksverschiebung“ der Weg ins politische Aus für die Sozialdemokratie. Ein Blick in die Gegenwart zeigt, dass er mit dieser Einschätzung richtig lag.

Dass ein SPD-Ortsverein seiner Heimatregion seinen Ausschluss aus der SPD forderte, war dann wohl der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Clement verließ nach 38 Jahren die SPD.

So widersprüchlich es erscheinen mag: Die Austritte des „linken Sozialdemokraten“ Oskar Lafontaine 2005 und drei Jahre später des „rechten Sozialdemokraten“ Wolfgang Clement markieren das Ende der alten Volkspartei SPD, weil sie den Spannungsbogen zwischen den Polen, die diese beiden Politiker repräsentiert hatten, nicht mehr halten konnte. Je enger die programmatische Plattform der deutschen Sozialdemokratie von da an wurde, desto kleiner wurde sie. Wer mit Clement darüber rückblickend sprach, merkte schnell, dass ihm diese Entwicklung seiner einstmals so stolzen Partei nicht gleichgültig war, sondern durchaus naheging.

Zugleich begann für ihn mit dem Ausscheiden erst aus der aktiven Politik und danach aus der SPD auch ein neuer Grenzgang zwischen Wirtschaft und Publizistik, den er schon kurz nach dem Niederlegen seiner politischen Ämter als „dritten beruflichen Lebensabschnitt“ bezeichnete. Er übernahm eine beachtliche Reihe von Funktionen bei renommierten Unternehmen, Organisationen und Initiativen, die aber weniger als seine provozierend-deutlich geäußerten Kommentare zur Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Energiepolitik den Graben zwischen ihm und Teilen der SPD vertieften.

Das Ende dieser gegenseitigen Verletzungen und Kränkungen ist bekannt. Ich habe diesen Schritt immer bedauert, gerade weil ich Wolfgang Clement so geschätzt habe und unser Kontakt bis in die letzte Phase seiner schweren Krankheit andauerte. Die Unfähigkeit von Parteien und ihren großen Repräsentanten, sich gegenseitig Fehler einzugestehen, um das Gemeinsame wiederzuentdecken, habe ich in seinem Fall als besonders tragischen Verlust empfunden und tue es bis heute.

Über die politische Lebensleistung als ehemaliger „Leitender Angestellter“ seines (Bundes-)Landes braucht es keine Kränze, die für ihn zu flechten wären. Man kann in NRW die Ergebnisse seiner Arbeit an vielen Orten sehen.

Was bleibt noch von Wolfgang Clement? Vor allem die Gewissheit, dass gerade in Krisenzeiten es klarer Führungs-, Management- und Kommunikations-Qualitäten seitens der Politik im Blick auf unsere Gesellschaft bedarf. Von diesen Anforderungen erfüllte er mehr als andere in seinen Ämtern.

Gewiss war er kein geborener Diplomat. Dass er aber auch zusammenführen konnte, hatte er bereits als Ministerpräsident in NRW mehrfach bewiesen, etwa als er, entgegen manch anderer Erwartungen, die rot-grüne Landesregierung vor 20 Jahren fortsetzte, später als erfolgreicher Schlichter in Tarifauseinandersetzungen im Baugewerbe agierte. Fest steht für mich: Parteien, Volksparteien insbesondere, brauchen, um mehrheitsfähig zu sein, herausragende wirtschaftliche Tempospieler. Wolfgang Clement war bis zu seinem Parteiaustritt ein solcher. Insofern war sein Abgang ein doppelter Verlust: für ihn, weil er seitdem politisch heimatlos war, obwohl er im Herzen Sozialdemokrat blieb – und für die SPD, weil sie ohne ihn ein gehöriges Stück ärmer geworden ist.

Sein Tod ist für seine Familie der größte Verlust. Aber auch die Republik hat einen ihrer großen „Macher“ verloren. Wie so viele andere, werde ich ihn und seinen augenzwinkernden Blick nicht vergessen.

Weitere Artikel dieser Ausgabe