Eine besondere Beziehungsgeschichte

Über die Anstößigkeit eines christlichen Grundaxioms

20
12
PICTURE ALLIANCE | CHROMORANGE/WEINGARTNER
Mann mit Maske
20
12
PICTURE ALLIANCE | CHROMORANGE/WEINGARTNER
Mann mit Maske

Eine besondere Beziehungsgeschichte

Über die Anstößigkeit eines christlichen Grundaxioms

An Weihnachten feiern Christen, dass Gott Mensch wird. In der Bibel wird dies drastisch als „Fleischwerdung“ bezeichnet. Ist das eine mythologische Vorstellung oder hat das auch im 21. Jahrhundert noch eine spirituelle Relevanz?

„Logos sarx egeneto kai eskenosen en hemin“ – das Wort wurde Fleisch und hat unter uns gewohnt. So steht es im griechischen Original des Johannesevangeliums, und so philosophisch abstrakt drückt die Bibel das Grundgeheimnis von Weihnachten aus. In den Kirchen wird oft von der Menschwerdung Gottes gesprochen, doch eigentlich müsste es sogar Fleischwerdung heißen. Was ist damit gemeint?

Im biblischen Kontext ist mit „Fleisch“ der ganze Mensch gemeint, in seiner Hinfälligkeit und Schwachheit im Gegensatz zum Göttlichen und Vollkommenen. Das ist nicht sexuell konnotiert, wie man denken könnte, sondern meint viel grundsätzlicher das „Sein zum Tode“ des Menschen. Mit Logos, „Wort“, ist Gott gemeint, aber nicht als Monade, als absolut jenseitige Idee, sondern als etwas Dialogisches: Ein Wort, das sich an jemanden richtet und mitteilt.

Mit dieser Vorstellung einer Fleischwerdung des göttlichen Logos ist ein Grundaxiom der christlichen Gottesvorstellung bezeichnet, die sich wesentlich von anderen Religionen unterscheidet. Zwar gibt es auch in anderen Religionen wie dem Hinduismus die Vorstellung einer „Inkarnation“, also das Hinabsteigen eines Gottes in die Menschenwelt, oder – wie im tibetischen Buddhismus – die Vorstellung einer Re-Inkarnation. Doch in der christlichen Vorstellung ist die Inkarnation mehr als nur eine vorübergehende Erscheinung eines göttlichen Wesens in dieser Welt.

Die christliche Theologie stellt die Inkarnation in den Zusammenhang des ganzen Lebens Jesu. Was an Weihnachten geschieht, geht weiter in seinem irdischen Leben: Man kann anders leben, ohne Angst und Furcht, wenn man zu seinem Gott „Abba“, Vater, sagt, und man wird „selig“ gepriesen, wenn man arm ist und verfolgt wird, wenn man weint oder hungrig ist. Als Barmherziger findet man selber Erbarmen, und als Friedensstifter wird man Kind Gottes genannt werden. Dass Gott in die Welt gekommen ist, ändert die Verhältnisse und Logiken dieser Welt. Jesus heilt Menschen, um zu zeigen, dass diese Welt eine andere geworden ist: Ein radikaler Wechsel hat sich vollzogen.

All dies ist „Offenbarung“ Gottes. Doch damit hört es nicht auf. Die christliche Gottesidee kulminiert in der Vorstellung, dass der fleischgewordene Sohn Gottes sich gerade dann als Gott offenbart, wenn er am schwächsten und verletzlichsten ist: am Kreuz. Dass Jesus unschuldig stirbt, zeigt die Macht der Liebe, der eigentlichen „Natur“ Gottes, und diese Macht ist stärker als der Tod. Die Krippe vollendet sich am Kreuz.

Die Vorstellung, dass Gott in diesem radikalen Sinn „Fleisch“ geworden ist, dass er vor über 2000 Jahren in einem kleinen Dorf am Rande des römischen Reiches „zur Welt gekommen“ ist, dass Jesus wirklich Gott war und – sofern man an die Auferstehung glaubt – auch weiterhin Gott und Mensch ist und „mitten unter uns“ lebt, erscheint immer weniger plausibel, selbst unter praktizierenden Christen. Jesus wird eine Art „besondere Beziehung“ zu Gott zugestanden, die es ihm ermöglicht hat, ein vorbildlicher Mensch zu sein.

Aber eigentlich war er auch „nur“ ein Mensch wie wir, so diese Vorstellung. Das zeigt sich in der Gebetspraxis. Die Person Jesu tritt gegenüber dem „eigentlichen“ Gott als Urgrund zurück, und so fällt es jungen Menschen leichter, sich an einen unpersönlichen Gott zu wenden, den man sich eher als eine Energie vorstellt oder als etwas, was in den Menschen oder in der Natur vorhanden ist, als einen Gott, der in Jesus Christus ein Antlitz hat, in das man schauen kann.

Das widerspricht nicht von vornherein christlichen Vorstellungen. Auch die christliche Tradition kennt kontemplatives Beten, das sich von menschlichen Vorstellungen zu lösen sucht. Die sogenannte „negative“ Theologie ist von dem Bemühen geleitet, Gott vor dem Zugriff menschlicher Begrenztheit im Denken zu schützen.

Doch das christliche Weltbild kann nicht von der Person Jesu Christi abstrahieren, der als „wahrer Mensch und wahrer Gott“ (Konzil von Chalcedon 451, in der heutigen Türkei) angesehen wird. Es ist wichtig, sich dieses Grundaxiom zu vergegenwärtigen, wenn man die innere Kraft des Christentums verstehen will. Alle christlich inspirierten ethischen Grundwerte des Christentums wie Menschenwürde oder die Fähigkeit zur Vergebung und Barmherzigkeit knüpfen an die Vorstellung eines menschgewordenen Gottes an.

Die Würde des Menschen ist in christlicher Perspektive deswegen unantastbar, weil erstens der Mensch Gottes Ebenbild ist, wie es auch das Judentum bekennt, zweitens aber auch, weil gerade das verletzte menschliche Leben, gerade die Schwächsten und Gefolterten eine Offenbarung Gottes sind, wie es bei Jesus selber der Fall war. Sehr eindrücklich ist das in der Gerichtsrede im Matthäusevangelium beschrieben, in der Jesus seinen Jüngern klarmacht: „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ (Mt 25,45).

Christliche Spiritualität ist also der Präsenz Gottes in dieser Welt auf der Spur, die durch die Fleischwerdung revolutioniert wurde. Christlich glauben bedeutet, sich selber in diese Bewegung der Menschwerdung zu begeben und selber zu einer Offenbarung Gottes zu werden.

Das Christentum tut gut dran, sich auf dieses Grundaxiom des eigenen Glaubens zu besinnen, um plausibel machen zu können, warum es sinnvoll ist, diesem Jesus von Nazareth, der an Weihnachten geboren wurde, nachzufolgen.

Weitere Artikel dieser Ausgabe