Eine Million Jahre

Postskriptum

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Eine Million Jahre

Postskriptum

Vor Äonen – also vor Fukushima und Angela Merkels Atomwende 2011 und als die öffentliche Debatte vergleichsweise weniger kulturkampfverseucht über die Funkdrähte ausgestrahlt wurde – verriet ein Mitglied der Jungen Union, das seinen Namen nicht in der Zeitung lesen wollte, einer kleinen Reporterrunde, warum sich die Jugendorganisation so entschieden für Atomkraft ausspreche. Ungeachtet der vermeintlichen Vor- und Nachteile aus energie­politischer Sicht sei die Position vor allem deswegen so attraktiv, da sie sich so hervorragend als Unterscheidungsmerkmal eigne. In so vielen anderen politischen Fragen hätten sich die Positionen der Parteien der Mitte, zumal in Zeiten der „asymmetrischen Demobilisierung“ Angela Merkels, so angeglichen, dass es immer schwieriger geworden sei, sich abzusetzen, anders zu sein, besonders, einmalig.

Die Krankenpflegerin, der Kraftwerksarbeiter, der Nuklearphysiker, die Finanzberaterin und die Linguistin in Annette Hugs teuflisch klugem Roman „Tiefenlager“ (bei Wunderhorn erschienen) fühlen sich nicht auserwählt, sind aber doch von einer Mission erfüllt. Ihre Sorge gilt den Überlebenschancen kommender Generationen und Geschlechter, die sie noch in tausend Jahren vor den Gefahren durch die Strahlung atomarer Endlager schützen wollen:

Wie kann das handwerkliche Know-how weitergetragen, das Material verfügbar gehalten, ja selbst eine entsprechende Zeichen- und Bildsprache erhalten werden, um Katastrophen zu verhindern?

Die bestechende literarisch-politische Pointe des Buches: „Zur Umsetzung der Ziele wird ein Orden gegründet.“ Hug erzählt in zwischen ironischer Persiflage und sachlich ernster Erörterung oszillierendem Ton, mit vorsichtigen Fantasy-Elementen, aber fernab von Science-Fiction: „Jedes Mitglied musste dort in einen verkabelten Anzug schlüpfen, einen Helm aufsetzen, sich mit dem digitalen Hirn eines Roboters vereinen, nach einem Alarm in Kavernen absteigen, in sicherem Abstand von jedem Lebewesen Risse im Fels vermessen, einen Wassereinbruch bekämpfen und Schweißnähte prüfen.“ Bruder Sebastian, Erster Maschinist, verzweifelt ob der Schrauben, die mit keiner Mutter zusammengehen, „weil jede Micky-Maus-Firma ein Weltreich gründet und feindliche Ersatzteile bekämpft.“

Felix Banaszak von den Grünen spottete jüngst genüsslich im Deutschen Bundestag Richtung Union: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Konservativer in diesem Land in ein Atomkraftwerk“ – und rechnete vor, wie sich CDU/CSU erst dafür, dann nach vorheriger Verlängerung dagegen und in der Opposition wieder dafür ausgesprochen hätten. Getreu der JU-Devise: Hauptsache anders!

Heute werden die letzten in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet. Die Zeit, die Annette Hugs Orden überdauern müsste, um vor den Gefahren eines Endlagers zu warnen, umfasst eine Million Jahre – bis Erdbeben, Korrosion, Bandenkriege, Meteoriteneinschläge und Verblödung keine Gefahr mehr darstellen.

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