Eine ungeheuerliche Idee

Kritik und Krise – die vielfältigen Wurzeln der Demokratie

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HUTTERSTOCK.DE/ROMANYA
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Eine ungeheuerliche Idee

Kritik und Krise – die vielfältigen Wurzeln der Demokratie

Vermutlich lernen Menschen aus der Geschichte. Entwicklungen wie die Frauenemanzipation, die weltweite Halbierung der Armut oder die Europäische Integration, aber auch Einrichtungen wie die Kanalisation oder Krankenversicherungen zeigen diese Lernfähigkeit. Angesichts der vielen Krisen, in denen wir heute die Demokratie wähnen, lohnt sich die Frage, was wir aus der Geschichte der liberalen Demokratie lernen können – also der Demokratie im Sinne einer Regierungsform, die das Ideal von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit anstrebt. Dabei drängen sich vier Punkte auf:

Erstens: Demokratie entwickelte sich nicht aus einem Grundgedanken, sondern aus einem ungeordneten Konglomerat aus Ideen und Praktiken. Die liberale Demokratie ist ein Flickwerk, in dem darum gerungen wird, die sich in vielerlei Hinsicht widersprechenden Utopien von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit voreinander zu schützen und gegeneinander zu stärken. Populisten aber wollen dieses feine Geflecht zerschlagen. Sie behaupten, nichts sei einfacher als Demokratie, man müsse nur ordentlich auf den Tisch hauen und den Mehrheitswillen durchsetzen.

Die Geschichte aber zeigt, dass Demokratie komplizierter ist. Gewiss, sie ist die Sache des Volkes, aber sie ist keineswegs immer von unten und von Mehrheiten erkämpft. So waren es in den meisten Ländern kluge, progressive Eliten, die ein weites Wahlrecht oder Verfassungsreformen durchsetzten. Zwar spielten Revolutionen für Demokratisierungsprozesse eine wichtige Rolle. Die Französische Revolution etwa hat jene ungeheuerliche Idee der Gleichheit für alle in die Politik gestoßen – der Gleichheit mit einem universellen Anspruch. Doch vermutlich finden Reformen in der Demokratiegeschichte zu wenig Beachtung; auch werden die durch Revolutionen hervorgerufenen Rückschläge häufig unterschätzt – immerhin folgte auf die Französische Revolution nicht die Demokratie, sondern der Tyrann Napoleon und dann für ganz Europa eine Zeit der Reaktion. Damit sollte die erste Lehre ergänzt werden. Politikwissenschaftliche Studien über jüngere Transformationsprozesse zeigen, dass gewaltförmige Wandlungsprozesse eher zu Diktaturen führen und friedfertige Reformen mehr Potential zur Demokratisierung aufweisen.

Reformen aber sind mühsam und langwierig. Sie bedürfen der Kompromisse. In vielerlei Hinsicht scheinen sie typisch für Demokratie zu sein. Sie sind aber oft unattraktiv. Wer hatte damals schon Lust, als der Arabische Frühling anbrach, mit alten Herrschern neue Wahlen und ein langatmiges Reformprojekt in Gang zu setzen?

Demokratie steht nicht zuletzt in den liberalen und reformerischen Traditionslinien, die eine unumschränkte Herrschaft des Staats oder einer einzelnen Person oder Interessengruppe verhindern wollen und um eine Balance der Mächte ringen, in der die Freiheit und die Würde des Individuums geschützt sind. Demokratiegeschichte ist immer auch die Geschichte ihrer Einschränkung, das ist die zweite historische Lehre. Verfassungen, Grundrechte oder das Prinzip der Repräsentation sind nicht zuletzt Einschränkungen der Mehrheitsmacht.

Die Relevanz der Einschränkungen und die Bedeutung von Reformen werden umso deutlicher, wenn klar wird, dass es bei Demokratie um konkrete Praktiken wie die Unverletzlichkeit der Wohnung oder eine wirkungsvolle Sozialhilfe geht. Denn Gleichheit und Freiheit lassen sich lange verkünden, aber für die Arbeiterin, die sich krank arbeitet oder kein Recht auf einen Lohn zum Überleben hat, erscheint diese Deklaration leer. Demokratiegeschichte – das wäre eine dritte historische Lehre – ist wesentlich eine Geschichte von wachsenden Rechts- und Lebensstandards: Es ist eine Geschichte des Körpers, seines Schutzes vor Versklavung und Misshandlung und seiner Pflege mit angemessener Kleidung, Nahrung und Obdach. Ohne den Schutz des Körpers bleibt die Menschenwürde eine leere Floskel – eine auch für Pandemie-Zeiten wichtige Einsicht. Das heißt vor allem auch, dass Demokratie ohne Rechtsstaat und Sozialstaat nicht gelingen kann.

Interessanterweise haben sich die Entwicklungen hin zu Partizipation, zu Rechtsstaat und Sozialstaat in aller Regel innerhalb von Nationen entwickelt. Nation erst machte den Menschen verständlich, was diese Idee der Gleichheit konkret bedeutete. Vor der Nation ist jeder ein Deutscher (oder Italiener oder Amerikaner), egal ob Adliger, Fabrikant oder Bauer. Da Partizipation und ein Wahlrecht auch klare Definitionen der Zugehörigen erfordern, da außerdem Institutionen wie der Sozialstaat oder der Rechtsstaat sich schlicht nicht auf die gesamte Menschheit beziehen lassen – und da Nation jenes Gemeinschaftsgefühl stiftet, das Solidarität ermöglicht, lässt sie sich nicht von der Demokratiegeschichte trennen. Nation versöhnte in gewisser Weise den Anspruch auf universelle Gleichheit mit der Realpolitik.

Zugleich zeigen sozial- oder rechtsstaatliche Entwicklungen, dass es sich bei Demokratisierungsprozessen nicht um isolierte nationale Ereignisse handelt. Die Geschichte der Demokratie verläuft alles in allem in einem international erstaunlich parallelen Prozess. Oft fanden entscheidende Wahlrechtsausbreitungen in vielen Ländern innerhalb einer Dekade statt: etwa in den 1840er-Jahren oder in den Jahren 1910er-Jahren, als Frauen lautstark die politische Bühne betraten und forderten, dass universelle Gleichheit auch das weibliche Geschlecht meinte – oder während der weltweiten Aufbrüche um 1970. Das ist die vierte Lehre: Demokratie bedarf in aller Regel des nationalen Rahmens, auch wenn sich paradoxerweise meistens ihre Entwicklungen internationalen Makroprozessen verdanken.

Daraus ergibt sich auch: Die deutsche Geschichte ist kein Weg in den Westen. Deutschland war stets ein Teil des Westens – als einer imagined community von Zivilität. Dass Deutschland zumeist ein recht gewöhnlicher Fall war, mag manche enttäuschen, und manchen mag dieses Ergebnis angesichts des Zivilisationsbruchs des Holocaust als unangemessen erscheinen.

Doch die Demokratiewerdung der Bundesrepublik nach 1945 wäre schwerlich möglich gewesen, wenn Deutschland nicht eine lange Geschichte der politischen Partizipation, des Rechts- und Sozialstaats gehabt hätte. 1933 besaß Deutschland nicht nur eine über fünfzigjährige Parlaments- und Verfassungsgeschichte. Zahlreiche deutsche Länder blickten auf demokratische Traditionen zurück, die weit über hundert Jahre alt waren. 1933 wussten die Deutschen Bescheid. Nach 1945 betrieben die westlichen Alliierten zweifellos eine kluge und weitsichtige Politik. Doch dass es von außen, mit militärischer Gewalt und Re-Education möglich wäre, eine Demokratie zu installieren, war zweifellos eines der historischen großen Missverständnisse – mit fatalen Folgen.

Das ist eine bedrückende Erkenntnis. Denn die deutsche Geschichte als eine Geschichte des Westens verweist auf die Fragilität von Demokratie. Auch wenn wir heute viel bessere Voraussetzungen haben als die Menschen in der Zwischenkriegszeit – allein die Bedeutung des Wohlstands lässt sich kaum hoch genug veranschlagen –, so ist doch die traurige Wahrheit, dass das NS-Reich aus einer westlichen Demokratie erwuchs.

Aber die Menschen haben auch daraus ihre Lehren gezogen. Unter anderem die, dass es für Demokratien notwendig ist, den Nationalismus durch internationale Abkommen und Organisationen zu zähmen.

Demokratien leben von Kritik und von der Krise. Und von Reformen, die daraus folgen. Was lässt sich aus den aktuellen Krisen lernen? Wie werden die nationalen Demokratien in einer sich globalisierenden Welt mit der Universalität des Gleichheitsanspruchs und wie mit den Umweltzerstörungen umgehen?

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