Eine Zäsur

Putin will Europa mit Gewalt neu ordnen. Europa und Deutschland müssen sich neu aufstellen

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Eine Zäsur

Putin will Europa mit Gewalt neu ordnen. Europa und Deutschland müssen sich neu aufstellen

Die Nacht vom 23. auf den 24.Februar 2022 hat Europa verändert. Die Zeit der politischen Glückseligkeit der Deutschen und der Europäer nach der Wiedervereinigung 1989 ist mit Wladimir Putins Entscheidung, einen Krieg gegen die Ukraine zu führen, endgültig vorbei. Wir erleben die größte Gefahr für den europäischen Frieden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist das Wiederaufleben des Kalten Krieges, nur gefährlicher als in den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren. Der Gegner ist ein eiskalter Moskauer Autokrat, bereit, Verbrechen gegen die Menschen eines Nachbarstaates – seines „Brudervolkes“ – zu begehen, alle Regeln des Völkerrechts zu brechen und anderen Staaten indirekt mit dem Einsatz atomarer Waffen zu drohen. Wladimir Putin ist ein Kriegsverbrecher. Sein Ziel: Europa neu zu ordnen, nach russischen Vorstellungen.

Zum dritten Mal besetzt der russische Diktator völkerrechtswidrig und gewaltsam fremdes Staatsgebiet: 2008 bei der Abspaltung Südossetiens von Georgien, 2014 bei der Besetzung der Krim und nun 2022 mit dem Einmarsch in ukrainisches Staatsgebiet. Brutal – so, wie wir es von Diktatoren kennen – verfolgt Putin seinen Traum vom Großrussischen Reich. Er bestreitet dies zwar, aber er ist bereit, dafür einen Krieg zu führen.

Dieser Krieg gegen die Ukraine muss monatelang, wenn nicht jahrelang vorbereitet worden sein. Putin hat nicht nur Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Joe Biden belogen und bloßgestellt, sondern auch Ex-Kanzlerin Angela Merkel. Alle politisch Verantwortlichen, aber auch die meisten Medien, waren gegenüber diesem russischen Präsidenten und seinen Vasallen über viele Jahre zu naiv – da hat die ehemalige Verteidigungsministerin und CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer recht. Um zu klären, warum das passieren konnte, werden Politik, Wissenschaft und auch die Medien viel aufzuarbeiten haben.

Putins Erzählung vom Großrussischen Reich ist jedoch nur die Fassade für sein wirkliches Ziel: Er will Russland wieder zu einem mächtigen Gegenspieler der USA und des Westens machen.

Dieser Putin-Plan war lange angekündigt. Es war im Februar vor 15 Jahren auf der Münchener Sicherheitskonferenz. Putin nahm zum ersten Mal teil. Sein Auftritt war fulminant, verstörend und erschreckend. In harschem Ton klagte er 2007 die USA als Supermacht an, aggressiv sprach er von der Expansion der Nato gen Osten und der Bedrohung Russlands durch westliche Provokationen. Mit dieser Anklagewucht hatte keiner der Teilnehmer auf der damaligen, mittlerweile historischen Konferenz im Bayerischen Hof gerechnet. Die US-Delegation und fast alle anderen Besucher waren schockiert, Russland-Kenner taten sich schwer, die Rede einzuordnen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Nicht wenige Experten hielten sie für eine Wutrede aus Enttäuschung über die geringe Resonanz auf sein Angebot der engen Zusammenarbeit mit Europa und den USA, das er in seiner Ansprache in perfektem Deutsch im Deutschen Bundestag am 25. September 2001, zwei Wochen nach den Anschlägen auf New York und Washington, unterbreitet hatte. Dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush bot er Zusammenarbeit bei der Terrorbekämpfung an. Die Resonanz der westlichen Staaten jedoch war sehr zurückhaltend – vielleicht ein Fehler –, der dann zu Putins Politikwandel führte, angekündigt in seiner Wut-Rede und zum ersten Mal nur ein Jahr später umgesetzt im Kaukasus-Konflikt mit der Besetzung Südossetiens.

Spätestens mit diesem Einmarsch in Georgien war klar, Putin würde vor Völkerrechtsverletzungen und gewaltsamen Aktionen nicht zurückschrecken, um die alte Sowjetunion wiederaufzubauen. Der Einmarsch und die angestrebte Einverleibung der Ukraine ist jetzt das jüngste Beispiel. Auch die Befürchtungen, ob Putin nicht schon längst die baltischen Staaten im Visier hat, werden jeden Tag größer. Das, was bislang undenkbar war, ist jetzt denkbar geworden.

Bis zum 21. Februar 2022 aber konnte Putin immer noch glauben, die USA und besonders die EU und Deutschland würden vor harten Maßnahmen zurückschrecken. Besonders die Deutschen lebten lange mit einer Russland-Naivität nach der Wende, immer noch Michail Gorbatschow verehrend; die deutsche Industrie war begeistert vom Russland-Geschäft und blendete die Menschenrechtsverletzungen durch Putins Regime gerne aus.

Immer wieder wurde von Russland und von Teilen deutscher Politiker und Diplomaten darauf verwiesen, dass in den Verhandlungen nach dem Fall der Berliner Mauer der damaligen Sowjetunion zugesichert worden sei, dass die Nato sich nicht weiter nach Osten ausdehne. Bis heute streiten Experten und auch Zeitzeugen, ob es diese Zusicherung in dieser Deutlichkeit je gegeben hat.

Spätestens aber, als US-Präsident Barack Obama im März 2014 Russland zu einer Regionalmacht degradierte, einer seiner größten außenpolitischen Fehler, wurde klar: Putin geht auf vollen Konfrontationskurs zum Westen, zu den USA, zu Europa. Daran konnte auch das enge, aber kühle Verhältnis von Kanzlerin Angela Merkel zu Putin nichts mehr ändern. Der Kreml-Herrscher trieb den Westen vor sich her, und mit US-Präsident Donald Trump fand er einen offenen Verbündeten, der aus Naivität, Unkenntnis und gefährlichem Narzissmus den Autokraten in Moskau hoffierte und bis heute bewundert. Putins augenblickliches Verhalten sei schlau und genial – so ließ der Möchtegern-Autokrat in Florida verlauten. Welch ein Glück im Unglück der Russland-Krise, dass nun mit Joe Biden ein außenpolitisch erfahrener Präsident im Weißen Haus sitzt. Biden steht zwar unter großem Druck von Republikanern und Teilen seiner Demokraten, aber nur mit ihm konnte eine nie gekannte Einigkeit innerhalb der Nato und zwischen EU und USA hergestellt werden.

Doch selbst diesen erfahrenen Außenpolitiker Biden wollte Putin bis in die letzten Tage und Stunden vor seinem Angriffsbefehl noch vorführen. Propaganda-Lügen sind die Stärken des ehemaligen russischen Geheimdienstagenten Putin. Doch der US-Präsident war vorbereitet und ließ sich nicht mehr täuschen.

Die nun erlassenen gemeinsamen Sanktionen der USA und Europas sind richtig, können jedoch nur der Anfang sein. Putin werden sie zunächst nicht beeindrucken, aber sie werden seine Umgebung, seine milliardenschweren Oligarchenfreunde treffen – spätestens dann, wenn die Sanktionen noch verstärkt werden, was zu hoffen ist. Der Westen muss in diesem Fall kühl und überlegt handeln. Es war zwingend notwendig, das Projekt Nord Stream 2 zu stoppen, selbst wenn es in Deutschland zu Energieengpässen kommen sollte. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, diese Energieengpässe zu verhindern. Die Ampel-Regierung wird einiges aus ihrem Koalitionsvertrag dafür korrigieren müssen, auch um die steigenden Energiepreise sozial abzufedern. Deutschlands Bevölkerung muss erkennen, dass die finanziellen Opfer für die Demokratie größer werden.

Putins Krieg ist eine Zäsur. Deutschland muss sich ab sofort in seiner Sicherheitspolitik neu aufstellen. Alte Gewissheiten und Überzeugungen gehören auf den Prüfstand. Das reicht von der Stärkung der Bundeswehr über die stärkere Beteiligung Deutschlands an den Nato-Kosten bis hin zur einer möglichen Neuausrichtung der Waffenexportregeln. Auch die Energiepolitik steht auf dem Prüfstand. Eine so hohe Abhängigkeit von russischem Gas darf es nicht mehr geben. Diese Ampelkoalition steht in all diesen Fragen nun am Scheideweg.

Härte gegen die russische Regierung war in den Zeiten des Kalten Kriegs das richtige Mittel – es sei an dieser Stelle nur an den Nato-Doppelbeschluss erinnert. Es war deshalb richtig, dass die USA die Treffen der Außenminister Antony Blinken und Sergej Lawrow und das Treffen Biden-Putin zunächst abgesagt haben. Deshalb sollte man auch jetzt Wolodymyr Selenskyj und der Ukraine eine Zusage für die EU-Mitgliedschaft geben.

Im Kalten Krieg gab es die „Back Channels“, vertrauliche Kontakte zwischen engen Mitarbeitern der jeweiligen Regierungschefs. Man kann nur hoffen, dass die neue Bundesregierung solche Hintergrundkanäle schon besitzt oder von den Vorgänger-Regierungen übernommen hat. Zumindest die EU und die USA müssten solche Gesprächsmöglichkeiten besitzen. Eine Ausbreitung des Russland-Ukraine-Konflikts auf andere Länder in Osteuropa kann man nicht mehr ausschließen. Die Sorge der baltischen Staaten ist berechtigt.

Es ist eingetreten, was abzusehen war: Die EU, der Westen und gerade auch Deutschland haben die Ukraine eher halbherzig unterstützt. Verbale Solidaritätsbekundungen gab die Bundesregierung unter Kanzler Scholz gerne und zahlreich, zu härteren Maßnahmen ließ sie sich lange Zeit. Schärferen Maßnahmen vor und nach dem Angriff auf die Ukraine wie Waffenlieferungen und den Ausschluss Russlands vom Swift-Zahlungssystem hat Kanzler Scholz bis gestern noch verhindert. Ob die verzweifelten Ukrainer uns das jemals vergessen werden? Wohl kaum.

Es ist Putins vielleicht letzter Kampf: Treffen die Sanktionen am Ende ihn und sein Gefolge doch, könnte er nachgeben müssen. Oder aber er schafft es, Russlands Bevölkerung trotz der innenpolitischen, wirtschaftlichen Misserfolge mit Druck auf seiner Seite zu halten und seine Politik der Annexionen und Kriegsführung fortzusetzen. Putin kämpft, das sollte bei aller Kraftmeierei nicht vergessen werden, um sein politisches Überleben. Wie lange noch kann er die Proteste der jungen Leute in seinem Land niederknüppeln?

Deutschland wird nun auch daran gemessen werden, wie wir mit den ukrainischen Flüchtlingen umgehen. Sie werden vielleicht zu Tausenden nach Deutschland streben. Sind wir alle darauf organisatorisch und mental eingestellt? Wir haben viel gutzumachen gegenüber der ukrainischen Bevölkerung.

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