Eingemauert in Verschwörungsmythen

Nawalnys Heimkehr schärft den Blick für Russland im Jahr 22 der Herrschaft Putins

23
01
PICTURE ALLIANCE/DPA | MICHAEL KAPPELER
„Der Berliner Patient“ auf dem Weg nach Moskau: Alexej Nawalny
23
01
PICTURE ALLIANCE/DPA | MICHAEL KAPPELER
„Der Berliner Patient“ auf dem Weg nach Moskau: Alexej Nawalny

Eingemauert in Verschwörungsmythen

Nawalnys Heimkehr schärft den Blick für Russland im Jahr 22 der Herrschaft Putins

Mutig war es allemal, kühn das Kalkül dieser Heimkehr nach Moskau, vielleicht auch zu verwegen – und doch war diese angekündigte Konfrontation in gewisser Weise alternativlos für Alexej Nawalny.

Natürlich musste er davon ausgehen, bei seiner Einreise verhaftet zu werden. Natürlich musste er davon ausgehen, dass die „Staatsorgane“ alles versuchen würden, Sympathiebekundungen zu verhindern. So, wie es am vergangenen Sonntag bei klirrendem Frost vor dem Regierungsflughafen Wnukowo geschah: Absperrungen, Behinderungen, Polizeieinsätze, Männer in schwarzen Uniformen. Das Flugzeug umgeleitet auf den viele Kilometer entfernten Flughafen Scheremetjewo; Nawalnys umgehende Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen; und am Morgen danach ein sehr, sehr eiliger Haftprüfungstermin wegen eines Verfahrens, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als gegenstandslos beurteilt wurde, inszeniert in einer kurzerhand zum Gerichtssaal umfunktionierten Polizeistation. Es mochte nur ein Zufall sein, dass man vergessen hatte, ein Plakat abzuhängen, auf dem Genrich Jagoda abgebildet war. In den 1930er-Jahren Jahren Chef des Geheimdienstes NKWD, gehörte er zu den schlimmeren unter Stalins Schlächtern – bis er selbst sein Todesurteil bekam.

Zu 30 Tagen Haft verurteilt, wartet auf Nawalny umgehend ein weiterer Prozess, seit Jahren geht es um angebliche Veruntreuung von Geldern.

Dabei ist er Opfer eines, so kann man es sagen, politischen Verbrechens, eines heimtückischen Mordanschlags mit einem russischen chemischen Kampfstoff auf russischem Boden, nach allen bisherigen Erkenntnissen von staatlichen Stellen organisiert und durchgeführt. In Russland aber wird aus angeblichem Mangel an Beweisen für eine Vergiftung nicht ermittelt.

Vor Gericht kommen nicht die Täter; in Haft kommt vielmehr er.

Aber hätte Nawalny in Deutschland bleiben sollen? Ein Oppositioneller im Exil, der aus sicherer Entfernung russische Realitäten kommentiert, diese Kleptokratie? Ein Emigrant wie so viele, den man trotz YouTube-Kanal und Twitter-Feed dann doch bald nicht mehr ernst nehmen würde? Ein Russe in Berlin, heimatlos, an Sehnsucht nach seinem Land leidend?

Nawalny gelang, was in Russland seit 20 Jahren kaum jemandem gelungen ist: sich als Erster Mann der Opposition in eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe mit einem Präsidenten zu begeben, der längst ewig scheint. Mochten sie noch so sehr versuchen, ihn als unwürdiges Nichts darzustellen, die Nennung seines Namens zu vermeiden – „der Berliner Patient“, so Putin; mochten sie noch so sehr versuchen, diese Rückkehr ins Lächerliche zu ziehen – „Man hat ihn verhaftet?“, fragte mit dem ihm eigenen höflichen Zynismus Putins Sprecher Dmitri Peskow, „In Deutschland?“

Diese Heimkehr schärft den Blick für Russland im Jahr 22 der Herrschaft Putins: Es steht die repressive Macht gegen das Recht. Es steht die korrumpierte Elite gegen die Vertreter einer zivilen Gesellschaft. Und ein trotz aller Fitness alternder Präsident gegen einen jüngeren, fest entschlossenen Mann, der einen Mordanschlag mit einem chemischen Kampfstoff überlebte, den offenbar Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes GRU in die Nähte seiner Unterwäsche geträufelt hatten.

Doch dann stellte Nawalny durch sein Live-Telefonat mit einem der am Mordanschlag nach eigenen Angaben beteiligten GRU-Offiziere die Sicherheitsorgane endgültig bloß. Es schien wie eine Neuauflage des gescheiterten Attentatsversuches mit Nowitschok im britischen Salisbury 2018, bei dem eine Frau starb – der Fall Skripal.

Jetzt gehe es um die „Gesichtswahrung des Staates und die Aufrechterhaltung der Abschreckungsmaschine“, schreibt die russische Politologin Tatjana Stanowaja.

Ja, Bürger gehen für Nawalny – und für sich, ihre Zukunft – in die Kälte, demonstrieren auf verschneiten Straßen, sie überwinden die Angst. Und riskieren damit, vor Gericht gestellt zu werden. Denn die jüngsten Gesetze, vor den anstehenden Wahlen zum Parlament von eben jenem pseudodemokratischen Parlament verabschiedet, sind eine weitere Sicherheitsleine der Machtelite, die Nawalnys Strategie der „klugen Wahl“ fürchtet. Jede noch so kleine zivile, politische Regung kann nun „nach Recht und Gesetz“ abgeurteilt werden.

Es bleibt eine kleine Minderheit, die sich auflehnt. Zu groß sind bei der Mehrheit die verständliche Sorge um das eigene Überleben, die wirtschaftlichen Nöte, das Gefühl der Ohnmacht. Wirkmächtig ist die tosende staatliche Propaganda, die auch Nawalny als Instrument westlicher Geheimdienste darstellt, mit dem Ziel, die Werte des dekadenten Westens zu verbreiten und die Stabilität Russlands zu untergraben.

Es gehört seit Jahrhunderten zur Tragik dieses weiten Landes, das ökonomisch und sozial immer weiter zurückfällt: so viel Potential, unter systemischer Korruption und Reformunwilligkeit begraben. Ein Land, in dem Widerständler immer wieder zu Märtyrern erhoben wurden, von Herzen bemitleidet. Märtyrer verehrt man – in der Regel aber folgt man ihnen nicht.

Von manchen wird Alexej Nawalny bereits mit Andrej Sacharow verglichen, dem Friedensnobelpreisträger, der Jahrzehnte lang friedlichen Widerstand leistete und noch das Ende der Sowjetunion erleben durfte. Ein Sacharow ist Nawalny wahrlich nicht. Aber Sacharows Wirken wurde auch möglich durch das stete Engagement des Westens für ihn und sein demokratisches Anliegen: Es war das geduldige Drängen auf die Umsetzung der in Korb III der Helsinki-Schlussakte von 1975 verabschiedeten menschenrechtlichen Grundsätze, die auch die Sowjetunion akzeptiert hatte.

Alexej Nawalny hält auch dem Westen den Spiegel vor. Wer es nicht ohnehin längst wusste, vielleicht auch der Aufsichtsratsvorsitzende des russischen Staatskonzerns Rosneft und ehemalige Bundeskanzler, dem müsste das Wesen des „Putinismus“ allerspätestens jetzt klar geworden sein. Eingemauert in Verschwörungsmythen sehen sich Präsident und Machtelite als autoritäre Alternative zur Demokratie.

Lange konnte sich Wladimir Putin auf einen treuen Fürsprecher verlassen, ein Land mit Verständnis für russische Geschichte und auch für berechtigte post-sowjetische Traumata; ein Land, das sich als Partner für ein in Europa verankertes Russland anbot: Deutschland. Doch in Berlin ist man auf maximal mögliche politische Distanz zu Moskau gegangen. Dort sieht man den russischen Präsidenten und seine Politik – etwa im Osten der Ukraine – als größeres Problem, das man realpolitisch nüchtern „managen“ muss. Und und in einer mehr oder weniger angespannten friedlichen Koexistenz aushalten muss.

Nawalny helfen stete Solidaritätsbekundungen aus Berlin, Brüssel und Washington, so ritualisiert sie auch sein mögen. Aber die wirklich wichtigen Geschäfte gehen weiter.

Jetzt geht es wieder einmal um Sanktionen gegen Nord Stream 2. Dass die von den USA vorangetrieben werden, macht Kritik am „Diktat aus Washington“ einfach. Und vermeidet doch die Antwort auf die Frage: Wie viel Business mit Putin will sich Deutschland auch in europäischem Interesse leisten? Nord Stream 2-Pipelinestränge ist für das Überleben des russischen Regimes sehr viel wichtiger als sie für die europäische Energiesicherheit sind, darauf weisen nicht nur die Grünen hin. Die gerade von Mecklenburg-Vorpommern – Anlandeküste der Pipeline – gegründete und offenbar maßgeblich von Gazprom beeinflusste Stiftung soll den Weiterbau sicherstellen – ausgerechnet aus Klimaschutzgründen. Nach Widerspruch zweier deutscher Umweltverbände ist der Weiterbau unterbrochen. Welch eine Chance für ein Moratorium.

Weitere Artikel dieser Ausgabe