Elementarteilchen

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Elementarteilchen

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Acht Tage vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine haben die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages jenseits öffentlicher Aufmerksamkeit eine hochinteressante Ausarbeitung mit geradezu bedrückendem Ausblick veröffentlicht. Sie ist mit „Seltene Erden als wichtige Ressource“ überschrieben.

Als Seltene Erden werden die 14 Elemente der Lanthanoide sowie Yttrium bezeichnet, die nicht nur für die deutsche Wirtschaft längst unverzichtbar sind. Die Medizintechnik und die Automobilindustrie sind auf sie angewiesen, ebenso die Unterhaltungselektronik, Computer- und Batteriehersteller, darüber hinaus in bedenklich hohem Maße die Rüstungsindustrie. Sogar dem Benzin werden seltene Erden beigemischt. Kurz: Es ist heutzutage unmöglich, ein Stück moderner Technologie zu nutzen, das keine seltenen Erden enthält.

Die Vorkommen an Seltenen Erden überall auf dem Globus sind reichlich. Nur hat sich der Studie zufolge die Welt fast vollständig in die Abhängigkeit Chinas begeben. Der Abbau ist dreckig und umweltschädlich. Damit wollte der moderne Westen nichts zu tun haben. Sogar die auf ihre Unabhängigkeit stets bedachten Vereinigten Staaten, die bis in die 1960er-Jahre hinein die Elemente noch selbst geschürft haben, verlassen sich auf China. Doch erledigt China bisher nicht nur den dreckigen Abbau, sondern auch die Verarbeitung der Elemente. Dort liegt der chinesische Marktanteil nach Aussagen der Wissenschaftlichen Dienste bei 90 Prozent.

Man kann diese Marktmacht auch anders beschreiben: Wenn China die Lieferung von Seltenen Erden nach Europa oder in die Vereinigten Staaten einstellt, dann stehen diesseits wie jenseits des Atlantiks die Produktionsbänder ganzer Industriezweige still. Im Handelskonflikt mit Amerika hat das Land der Mitte genau damit mehrfach gedroht.

Vor dem Hintergrund der russischen Invasion in die Ukraine und der Unfähigkeit Europas, aufgrund seiner Abhängigkeit von russischen Rohstofflieferungen mit einem Öl- und Gasembargo zu reagieren, nimmt sich auch die Sache mit den Seltenen Erden bedenklich aus. Zum Beispiel: Erklärtes Ziel Chinas ist die Wiedervereinigung mit dem inzwischen freiheitlich-demokratischen Taiwan – notfalls mit Waffengewalt. Wie sollte der Westen in so einem Fall reagieren, wo er doch China die Hebel in die Hand gegeben hat, Teile seiner Volkswirtschaften lahmzulegen?

Immerhin versucht Europa seit einiger Zeit, eine eigene Rohstoffproduktion aufzubauen. Im September 2020 hat sich eine von der Industrie geleitete Europäische Rohstoffallianz (European Raw Material Alliance, ERMA) konstituiert, um die Unabhängigkeit Europas voranzutreiben. 2030 könnte Europa in der Lage sein, ein Fünftel des Bedarfs an Seltenen Erden selbst zu decken. Bis 2040 ließe sich das Recycling der Rohstoffe kostendeckend organisieren.

Niemand weiß, wie Kriege ausgehen und welche internationalen Konflikte noch folgen werden. Nur eines weiß man: dass angesichts diktatorischer Kreml-Willkür die Rohstoffabhängigkeit der westlichen Welt von totalitären Regimen völlig neu bewertet werden muss.

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