Europas Nachfolger der Kanzlerin

Impulsgeber, Ansprechpartner, Leitfigur – Emmanuel Macron will nicht nur in Frankreich wiedergewählt werden

03
10
PICTURE ALLIANCE/REUTERS
03
10
PICTURE ALLIANCE/REUTERS

Europas Nachfolger der Kanzlerin

Impulsgeber, Ansprechpartner, Leitfigur – Emmanuel Macron will nicht nur in Frankreich wiedergewählt werden

Feu tricolore heißt die Ampelkoalition auf Französisch, und an den Namen „sollte man sich langsam gewöhnen“, empfiehlt Le Monde seinen Leserinnen und Lesern.

In Frankreich hat man den Ausgang der Wahlen in Deutschland sehr genau beobachtet. Denn für Präsident Emmanuel Macron ist es entscheidend, wer in Berlin künftig als sein wichtigster europäischer Partner regiert.

Beide Kanzlerkandidaten waren noch kurz vor der Wahl in Paris und wurden im Élysée empfangen. Armin Laschet war als Kulturbevollmächtigter zuletzt mehrfach in Frankreich gewesen.

Olaf Scholz und Macron kennen sich aus der Zeit, als der mögliche Kanzler Erster Bürgermeister Hamburgs war und der französische Präsident Wirtschaftsminister unter François Hollande.

Mit beiden deutschen Kandidaten könne man leben, hieß es vor der Wahl im Élysée – Laschet und Scholz gelten als Garanten einer berechenbaren Politik in der Nach-Merkel-Ära, auch wenn es natürlich Nuancen in der Wertschätzung gibt. Von Laschet erhofft man sich mehr Zugeständnisse in der Sicherheitspolitik und bei Auslandseinsätzen, insbesondere in Afrika. In Scholz sieht man dagegen einen möglichen Partner für die erhoffte Lockerung in der EU-Schuldenpolitik.

Das ist zugleich auch der Grund, weshalb Christian Lindner mit erkennbarer Skepsis und Zurückhaltung betrachtet wird. In Paris hat man die FDP als Zuchtmeister der europäischen Finanzpolitik in lebhafter Erinnerung – auch wenn Macrons Partei En Marche im Europaparlament derselben Fraktion angehört.

Die Grünen gelten in Paris zwar als gemäßigt im Vergleich zu den französischen Verts, aber an der Nuklearpolitik scheiden sich die Geister: Macron bleibt mit Frankreich entschieden auf Atom-Kurs – ein Knackpunkt für Europa und die künftige Zusammenarbeit.

Trotzdem: „Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen“, sagt der Macron-Vertraute und Europa-Staatssekretär Clément Beaune im Gespräch mit dem Hauptstadtbrief. Und Paris drückt aufs Tempo: „Frankreich wird Anfang 2022 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen, und dafür brauchen wir eine arbeitsfähige deutsche Regierung, und zwar so schnell wie möglich.“

Denn für Macron ist die Ratspräsidentschaft eine wichtige Etappe im längst entflammten französischen Wahlkampf: Dort will er sich als kämpferischer Europäer, als tatkräftiger Reformer präsentieren. Schließlich hat er damit bereits seinen ersten Präsidentschaftswahlkampf 2017 gewonnen.

Im ersten Halbjahr 2022 will er daher mit Initiativen zur Klimapolitik und einem neuen europäischen Corona-Wiederaufbauplan punkten – und dafür braucht er die Unterstützung eines deutschen Bundeskanzlers, sonst wird daraus nämlich nichts. Das weiß man im Élysée nur zu genau.

Viel Zeit bleibt dafür allerdings nicht: Schon im April 2022 wird in Frankreich gewählt. Während sich bereits tatsächlich ernannte wie selbsternannte Präsidentschaftskandidaten in den Talkshows präsentieren, zeigt das französische System all seine Schwächen: Die Parteienlandschaft ist parzelliert, die einst stolzen Sozialisten kämpfen ums Überleben, die konservativen Républicains zerlegen sich in internen Machtkämpfen, die Grünen sind zersplittert und zu schwach, um ernsthaft mitzuspielen. So bleiben zwei Machtpole: Macron und seine La République en Marche, LREM, und der rechtsextreme Rassemblement National, der ehemalige Front National.

Noch hat er seine Kandidatur nicht erklärt. Dennoch: Laut jüngsten Umfragen liegt Macron in Führung, und zwar deutlicher, als seine Vorgänger jemals zu diesem Zeitpunkt lagen. Aber das Rennen ist offen: Von Rechtsaußen heizt die ewige Marine Le Pen – es ist ihr mittlerweile dritter und wohl letzter Versuch, Präsidentin zu werden – den Wahlkampf mit populistischen Thesen und populären Themen an, allen voran Migration und Innere Sicherheit.

Macron braucht Erfolge. Nach chaotischen Gelbwestenprotesten, Gewerkschaftsstreiks und bleierner Covid-Zeit ist von seinem Reformprogramm nicht allzu viel übriggeblieben. Außenpolitisch hat er gerade eine empfindliche Demütigung im U-Boot-Pazifik-Streit mit den USA kassiert. Innenpolitisch wächst die Kritik an seiner Haushalts- und Schuldenpolitik. Denn Frankreich drückt eine gewaltige Schuldenlast, die durch staatliche Milliardenprogramme während der Gesundheitskrise weiter angewachsen ist. Mit einer Quote von 120 Prozent könnte sie für ganz Europa zur Belastung werden.

Das ist der Grund, weshalb Macron auf eine Reform der strengen europäischen Schuldenkriterien drängt. Er braucht einen Befreiungsschlag. Damit könnte er in Frankreich – und in Europa – punkten, so, wie es ihm bereits mit dem 750-Milliarden-Corona-Hilfspaket gelungen ist, das in Paris als Erfolg Macrons gegenüber den „Geizigen Vier“ und vor allem der deutschen Kanzlerin, Angela Merkel, verbucht wird.

Und noch etwas beschäftigt Paris: Während in Berlin nun eine Dreier-Koalition unausweichlich geworden ist, und „le feu tricolore“ wie auch Jamaica ausgelotet werden, spekuliert man dort bereits über die Neujustierung der Aufstellung auf dem europäischen Spielfeld. Das Kalkül: Der künftige Kanzler einer Dreier-Koalition wird zu mehr Kompromissen gezwungen sein, auch in der Europapolitik. Ein französischer Präsident muss solche Rücksichten nicht nehmen.

Das hat Macron im Blick. Denn in der Nach-Merkel-Ära ist noch ein weiterer Platz auf der politischen Bühne neu zu besetzten: der der Nummer 1 in Europa – als Impulsgeber, Ansprechpartner, Leitfigur. Und dafür rechnet sich Emmanuel Macron, Frankreichs selbstbewusster Präsident, gute Chancen aus.

Weitere Artikel dieser Ausgabe