Fear Jahre

My fellow Americans, our long national nightmare is over – eine persönliche Bilanz des US-Autors Jonathan Lutes

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PICTURE ALLIANCE/ZUMAPRESS.COM | CAROL GUZYB
Broken-Windows-Theorie: Blick aus dem Kapitol in Washington nach dem Angriff von Trumps white supremacy Fraktion
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Broken-Windows-Theorie: Blick aus dem Kapitol in Washington nach dem Angriff von Trumps white supremacy Fraktion

Fear Jahre

My fellow Americans, our long national nightmare is over – eine persönliche Bilanz des US-Autors Jonathan Lutes

Lesen Sie hier Jonathan Lutes‘ Essay in der englischen Originalfassung (OV)

Die erste Präsidentschaftswahl, an die ich mich bewusst erinnern kann, fand im Jahr 1976 statt. Zu dieser Zeit hatte ich noch nie etwas von Gerald Ford oder Jimmy Carter gehört. Ford war für mich eine coole Automarke, daher war Ford mein Mann. Er verlor jedoch aufgrund eines nicht wiedergutzumachenden Fehlers: der ziemlich zwielichtigen Begnadigung Richard Nixons. Bei der nächsten Wahl im Jahr 1980 hatte ich noch immer keine klare Haltung zu den Kandidaten oder den Themen. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter wählten jedoch den unabhängigen John Anderson. Mein temperamentvoller Großvater, der zu jener Zeit bei uns lebte, war ein begeisterter Anhänger Ronald Reagans. Ich erinnere mich, wie seine Freude über den Sieg Reagans damals auf mich übersprang.

Vier Jahre später begann ich damit, meine eigenen Ansichten gegenüber den Menschen zu entwickeln, die ich beim Fernsehen mit meinen Eltern in den Nachrichten sah. So kam es, dass der natürliche Charme des Hollywoodschauspielers wie Ronald Reagan aufgrund einer berühmten Filmrolle auch genannt wurde, mich als leicht zu beeindruckenden Teenager derart faszinierte, dass ich mich über seine Wiederwahl als Präsident freute. Damit war ich ganz und gar nicht allein, denn Reagan gewann eine heutzutage unvorstellbare Anzahl von 525 der 538 Stimmen der Wahlleute und ließ seinen Konkurrenten Walter Mondale ziemlich alt aussehen. Dann durfte ich das erste Mal wählen, und ich erlebte meine erste wahrhaft derbe Wahlniederlage, denn ich stimmte im Jahr 1988 für Michael Dukakis, der zwar das liberale Gespür eines aufstrebenden College-Jungen verkörperte, dem jedoch jedwede politischen Instinkte fehlten. Diese wären nötig gewesen, um die gut geölte Maschinerie der Republikaner hinter George H.W. Bush ins Wanken zu bringen. Im Wahljahr 1992 wurden in mir erste Stürme der Begeisterung entfacht, als Bill Clinton mit der unfreiwilligen Unterstützung des parteilosen Kandidaten Ross Perot den Amtsinhaber besiegte. Zum ersten Mal nahm ich wahr, wie höherrangige Regierungsvertreter durchaus authentische, ja sogar inspirierende Auftritte hinlegen konnten. Obwohl sein Glanz bereits leicht verblasst war, schien die Wiederwahl Clintons im Jahr 1996 gegen Bob Dole (und erneut gegen Ross Perot) eine ausgemachte Sache zu sein, und man war zufrieden, wenn nicht sogar froh. Dies jedoch sollte die letzte „normale“ Wahl meines Lebens sein.

Als ich am 7. November 2000 schlafen ging, hatte Al Gore laut den Prognosen die 25 Stimmen der Wahlleute in Florida für sich gewinnen können und wurde zum Gewinner der Präsidentschaftswahl gegen George W. Bush erklärt. Als ich dann aber am nächsten Morgen aufwachte, war ich regelrecht schockiert. Noch schlimmer jedoch war die mit hochnotpeinlichen Begründungen getroffene Entscheidung des Supreme Courts, George Bush nach fünfwöchiger Auszählung, Neuauszählung und Blockierung von Nachzählungen die Präsidentschaft zuzuerkennen. Das Ergebnis im Jahr 2004, Bushs Wiederwahl gegen John Kerry, war zwar nicht ganz so knapp wie im Jahr 2000, dafür umso enttäuschender. Der Mangel an Ablehnung gegenüber der kriegstreiberischen und vom Krieg profitierenden Politik der Bush-Regierung und ein Wahlkampf, der durch die Verleumdung des Kriegshelden Kerry den Kriegsschwindler begünstigt hatte, lähmte mich derart, dass ich am gesamten darauffolgenden Tag paralysiert im Bett liegen blieb. Ich tröstete mich schließlich mit der Erkenntnis, dass das US-amerikanische politische Establishment nicht noch tiefer sinken und der internationale Ruf der Vereinigten Staaten niemals diesen während der Bush-Regierung entstandenen Tiefststand unterschreiten könnte. Dann kam Barack Obama und rüttelte mich, den abgestumpften Politikjunkie, auf, er begeisterte mich und besiegte im Jahr 2008 mit überwältigender Mehrheit den beliebten, moderaten Republikaner John McCain.

Dass meine damalige Naivität in der heutigen Zeit ziemlich niedlich erscheint, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Sogar noch vor Trumps Amtseinführung und weit vor der Zeit, da sich die Vereinigten Staaten immer weiter isoliert und von ihren nächsten Verbündeten entfremdet und stillschweigend einige der am wenigsten demokratischen Regimes weltweit geduldet haben, wurde deutlich, dass der schlimmste Präsident der jüngsten amerikanischen Geschichte nicht länger Bush junior hieß.

Das Narrativ war schnell geschrieben, und es wurde weithin akzeptiert, dass die vergessenen weißen Wähler der Arbeiterklasse aus dem sogenannten Rust Belt – insbesondere aus Pennsylvania, Michigan und Wisconsin, die drei Staaten, die Trump mit sehr knappen Ergebnissen gewonnen hatte – für die Wahl des Reality-TV-Stars ausschlaggebend waren. Dass Hillary Clinton beispielsweise keine einzige Wahlkampfveranstaltung in Wisconsin abhielt, war in der Tat ein unbestreitbarer Fehler. Ihre Niederlage war jedoch das Ergebnis einer Reihe von Faktoren, einschließlich der Fehlbehandlung einer FBI-Untersuchung von Clintons privatem E-Mail-Server, zwei überaus unpopulären Kandidaten und dem allgemeinen weltweit aufkommenden Trend, sich gegen die Elite zu stellen, zu der Clinton offenbar zählte – und Trump komischerweise nicht.

All diese tatsächlichen und möglichen Erklärungsversuche aber waren zu schmerzhaft für mich, als dass ich sie am Morgen meiner Verzweiflung, von denen es bis zur nächsten Wahl am 3. November 2020 noch mindestens 1455 geben sollte, durchdenken wollte.

Wenn die Regierung in den USA wechselt und einer konservativen Regierung eine progressive folgt, und umgekehrt, gibt es kaum politische Amtsträger, die eine Brücke zwischen beiden Regierungen bilden könnten. (In einem größeren Ausmaß als etwa in Deutschland werden höherrangige Verwaltungsbeamte entlassen.) In der Tat scheint das binäre System der USA so konzipiert zu sein, dass es Spaltungen willentlich hervorbringen möchte. Eine Partei ist so lange an der Macht, bis genug Wechselwähler der Regierung überdrüssig werden oder allzu desillusioniert sind und dann für die gegnerische Partei stimmen. Und dann schwingt das Pendel zurück. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Kalten Kriegs war diese Dynamik aufgrund der relativ geringen politischen Differenzen zwischen Demokraten und Republikanern nicht ganz so dramatisch.

Mit zunehmender Polarisierung in den letzten Jahrzehnten (siehe die willkürliche Einteilung der Wahlkreise und die Echokammern der unterschiedlichen medialen Lager) wurden die Wechselwähler allerdings auch zunehmend radikal: Den Neoliberalen aus Bill Clintons Mitte-links-Regierung folgten reaktionäre neokonservative Rechte, gefolgt von einer kulturell weit linken Regierung Barack Obamas und dann letztendlich der neonationalistischen Regierung Donald Trumps.

Obwohl mein Verständnis von den starken Schwankungen von amerikanischer Wahlentscheidungen mich tröstete und den Ausblick gab, dass auch diese Regierung bald wieder abgelöst werden würde, war die Aussicht, vier – oder acht! – Jahre mit dem geistlosen Narziss und vulgären Extremisten verbringen zu müssen, nahezu unerträglich.

Aber dann geschah etwas Unerwartetes – und ich meine damit nicht den Angriff auf das Kapitol oder den zweiten Versuch einer Amtsenthebung durch das Repräsentantenhaus, die in gewisser Weise den logischen Abschluss der Ära Trump bilden würde.

Dieses Geschehnis war Joe Biden selbst: nicht eine polarisierende Gestalt, nicht ein Donald Trump der Linken. Die Trump-Müdigkeit, Trump-Inkompetenz und Covid-19 verbündeten sich und führten zur Nominierung des unauffälligsten Kandidaten der Demokraten weit und breit und dazu, dass dieser mit sieben Millionen Wählerstimmen zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Obwohl vielleicht nur einige der Wähler Biden wirklich aus Überzeugung gewählt haben, so hat seine Wahl doch die gezackte Kurve eines unerträglichen Zyklus der vergangenen 30 Jahre durchbrochen. Es besteht Hoffnung – the center holds.

Aus dem amerikanischen Englisch von Nicoline Brodehl.

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