Führung um jeden Preis

Jogi, seine Jungs und wir. Probleme des Fußballs in Zeiten von Corona

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IMAGO IMAGES/SVEN SIMON
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Führung um jeden Preis

Jogi, seine Jungs und wir. Probleme des Fußballs in Zeiten von Corona

Ein beliebtes Ratespiel des Feuilletons lautet: Was sagt das Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft über den Zustand der deutschen Politik aus? Diese Frage verführt dazu, einfache Analogien zwischen Fußball und Politik zu suchen. Das Ergebnis sind beliebige Projektionen, die von politischen Neigungen nahegelegt werden.

Wenn man hingegen den Fußball als ein Feld des politischen Probehandelns ansieht, als eine Art Strategiespiel der politischen Führung, kann man bestimmte Lehren aus ihm ziehen. Das gilt insbesondere in einer Zeit der Krise, die aus zwei Gründen eine besondere Führung verlangt: Sie ist eine Zeit, in der Werte und Ansehen, die bisher als gesichert galten, ins Wanken geraten, darunter auch der Wert des professionellen Fußballs. Sie ist zudem eine Krise mit einem offenen Ende; das heißt: Niemand weiß, welche Situation entstehen wird, ob das Krankheitsgeschehen auch das soziale Gewebe des Landes infiziert.

Aus Fußballspielen kann man wichtige Lehren darüber ziehen, wie man den Kampf gegen einen starken Gegner führt: Welche Strategie wählt man, um die Stärken des Gegners unschädlich zu machen? Wie stellt man die eigenen Reihen auf? Wie führt man die Gruppe, für die man verantwortlich ist? Der Fußball ist gegenwärtig ein Feld strategischer Innovationen; aus seiner Beobachtung lassen sich mehr Einsichten gewinnen als aus militärischen Traktaten chinesischer Strategen.

Betrachten wir als Erstes die – scheinbar – einfache Tatsache, dass in Deutschland heute von der ersten bis zur dritten Liga Fußball gespielt wird. Und das, obwohl fast alle öffentlichen Betätigungen, die Freude bereiten, untersagt sind.

In den Augen großer Teile der Bevölkerung wird dieser Sonderweg als skandalös empfunden. Es war die Hartnäckigkeit und das geschickte Umwerben von Ministerpräsidenten, die dem Fußball eine Vorzugsbehandlung einbrachten: reguläre Ligaspiele unter medizinischer Kontrolle, ohne Zuschauer. Viele Einnahmen brachen weg, aber die Gewinne aus den TV-Übertragungsrechten und die Prämien der internationalen Verbände wurden weiter gezahlt. Gesichert wurde das (vorläufige) Überleben des Profifußballs durch die straffe Führung der Verhandlungen durch den Geschäftsführer des Interessenverbands deutschen Profivereine (DFL), Christian Seifert. Für den skeptischen Beobachter mutet es fast wie ein Wunder an, dass es bisher zu extrem wenigen Infektionen und keinen Spielausfällen gekommen ist.

Lehre eins: Man kann selbst wilde Männerhaufen disziplinieren und einer strengen Strategie unterordnen, wenn man ihnen mit Autorität vermittelt, dass von ihrem Verhalten ihre Existenz als Profis und Spitzenverdiener abhängt.

Erfolgreich konnte diese Strategie nur unter einer starken Führung sein. Stärke entstand dadurch, dass Seifert bei allen Entscheidungen präsent war und Überzeugungsarbeit leistete, wo es nötig war: im Deutschen Fußballbund (DFB), der selbst eher führungsschwach erscheint, bei den wichtigen Vereinsmanagern, bei den einflussreichen Politikern und in der Öffentlichkeit, die er in einer persönlichen Ansprache um Verständnis für die besondere Behandlung des professionellen Fußballs bat. Seifert gelang es, die Stimmung richtig einzuschätzen und seine Argumente beim Publikum, das diese „Geisterspiele“ wahrlich nicht schätzt, durchzusetzen. Selbst die militanten Fans enthielten sich jeglicher feindseliger Aktionen.

Dem internationalen Spielplan war geschuldet, dass während vieler Monate keine Länderspiele stattfanden. Für die Vorbereitung des Nationalteams bedeutete das eine Situation der Unsicherheit. Bundestrainer Joachim Löw verschwand aus der Öffentlichkeit. Man hörte zwar von einer fast fertigen Planung mit Spielern, die er in einer Kette von Aufstellungen in immer neuen Varianten von Aus- und Einwechslungen geprobt habe. Es war aber klar, dass keiner seiner Versuche auch nur annähernd überzeugt hatte. Kein Zweifel, ihm standen eine Reihe hervorragende Fußballer zur Verfügung. Herausragend waren sie jedoch nur im eingeübten Zusammenspiel ihrer Vereinsmannschaft. Wollte Löw den legendären Strategen Sepp Herberger imitieren, dessen öffentliche Akte sich auf das Vorzeigen seines mythischen schwarzen Notizbuchs beschränkten, in dem er angeblich den gesamten Plan zum Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 entworfen hatte?

Jogi Löw hatte kein schwarzes Notizbuch. Das Publikum wartete vergeblich auf Zeichen von Führung und Entschlossenheit. Als er vor den jüngsten Länderspielen des Jahres wieder im Fernsehen auftauchte, sah man einen gealterten Mann in schlaffer Haltung, der bei den Interviews die Hände in den Taschen seiner Hose vergrub. Seine vorgegebene Lässigkeit erinnerte an den Espresso trinkenden Löw auf der Promenade von Sotschi vor dem Ausscheiden seiner Mannschaft in der Vorrunde der WM in Russland.

Selbst wenn man Trainer in Wutanfällen nicht gern sieht, hätte man sich während des Spiels in Sevilla einen tobenden, brüllenden, wild gestikulierenden Löw so sehr gewünscht. Vergeblich, er saß in sich selbst vergraben einsam auf seiner Trainerbank.

Lehre zwei: Von einem Fußballtrainer erwartet man strenge, konsequente Führung. Sie beginnt mit der Führung von sich selbst. Führung findet zu einem großen Teil in der Öffentlichkeit statt, auch wenn nicht gespielt wird. Löws Aufgabe ist nicht nur die Arbeit mit den einzelnen Spielern – er muss auch die öffentliche Meinung bestimmen. In dem Maße, wie ihm das gelingt, erreicht er auch seine Mannschaft. Wenn er das große Publikum nicht überzeugt, wird sie auch nicht mehr auf ihn hören.

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