Gescheiterter Staat im Staate

Wem nutzt das Chaos im Libanon? Welche Rolle spielt der Iran? Was macht Europa?

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PICTURE ALLIANCE/AP PHOTO
Ein ganzes Land in Trümmern: Beirut nach der Explosion
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Ein ganzes Land in Trümmern: Beirut nach der Explosion

Gescheiterter Staat im Staate

Wem nutzt das Chaos im Libanon? Welche Rolle spielt der Iran? Was macht Europa?

Die schreckliche Explosion in Beirut am 4. August hat im wirtschaftlich schwer angeschlagenen Libanon eine Staatskrise von internationaler Bedeutung ausgelöst. Der anschließende Rücktritt von Premierminister Hassan Diab zusammen mit seinem Kabinett war eine Reaktion auf die Proteste der Libanesen, die die Korruption und Inkompetenz ihrer Politiker satthaben. Nichts weniger als eine völlige Umgestaltung des politischen Systems wird gefordert. Doch wird das gelingen?

Der Libanon ist seit jeher ein zerrissenes Land. Die vielen christlichen und muslimischen Gruppierungen haben unterschiedliche Interessen. Die Folge ist eine sektiererische Politik, sind Bandenchefs und „Duodezfürsten“, die ihrer jeweiligen Klientel mehr Schutz und Sicherheit bieten, als der Staat es vermag. Doch der Libanon ist wegen seiner Häfen im Mittelmeer und seiner Nachbarschaft zu Syrien, Iran und Israel von geostrategischer Bedeutung für die Stabilität im Nahen Osten. Kein Wunder also, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sofort nach dem Unglück in die Hauptstadt eilte, Hilfe versprach, aber auch Reformen anmahnte. Kein Wunder, dass auch die USA ein Wörtchen mitreden wollen. Angst geht um, das Machtvakuum könne das Land endgültig zerfallen lassen. Das aber wäre vor allem ein gefundenes Fressen für den Iran mit seinen Hegemonialansprüchen.

Die von Teheran gesteuerte schiitische Hizbollah, die international als Terrororganisation eingestuft wird, hat das eigentliche Sagen im Libanon. Sie ist militärisch besser ausgerüstet als jede andere Gruppe, sie spielt in der Politik eine gewichtige Rolle. Premier Hassan Diab konnte ohne das Placet von Hizbollah-Führer Hassan Nasrallah keine Entscheidungen treffen. Das Land hätte dringend finanzielle Unterstützung des IWF gebraucht. Doch dieser fordert unter anderem eine Reduzierung des Einflusses der Hizbollah. Das aber kann und will Nasrallah nicht zulassen, Gespräche kamen nicht zustande.

Die libanesische Bevölkerung ist nicht dumm. Sie weiß, dass die Hizbollah die größte Verantwortung für das Scheitern des Staates trägt, dass dieser „Staat im Staate“ verschwinden müßte. Auf den Demonstrationen hört man zunehmend die Forderung nach einer Entwaffnung der Schiiten-Miliz. Nur, wer soll das bewerkstelligen?

Seit Jahren versucht Iran, seine Macht im Nahen Osten auszubauen. Dank der problematischen Annäherungspolitik des US-Präsidenten Barack Obama musste Teheran einerseits Konzessionen bei seinem Atomwaffenprogramm machen, andererseits erhielt es dafür Milliarden von eingefrorenen Konten zurück, Sanktionen wurden aufgehoben. Das Geld investierte das Regime in seine „Stellvertreter“ in den sunnitischen Staaten. Teheran arbeitet seit Jahren daran, zwei „schiitische Halbmonde“ zu etablieren, eine Zangenbewegung, die auf der einen Seite über Bahrain, Irak, Jemen, Sudan bis nach Gaza reicht, auf der anderen das Gebiet über Irak, Syrien bis Libanon kontrollieren soll. Auf diese Weise sollen nicht nur die sunnitischen Regime geschwächt, der Einfluss des großen Gegenspielers Saudi-Arabien beschränkt, sondern natürlich auch Israel von zwei Seiten bedroht werden. Israel hat sich bislang einigermaßen erfolgreich gegen dieses Heranschleichen Teherans an seine Grenzen gewehrt. Der jüdische Staat hat Hunderte Angriffe gegen iranische und schiitische Ziele wie Truppen, Waffenlager, und -transporte vor allem in Syrien und dem Irak geflogen.

Das strategische Gleichgewicht im Nahen Osten ist aber nicht allein deswegen in Gefahr. Obamas größter außenpolitischer Fehler, nicht im syrischen Bürgerkrieg einzugreifen, ermöglichte es den Russen, in kleinerem Ausmaß auch den Türken, das Feld in Syrien zu übernehmen. Der Westen hat dem bis heute nichts entgegenzusetzen. Insbesondere die EU erweist sich in der internationalen Politik einmal mehr als impotent. Das ist umso tragischer, als die Folgen jeder Krise im Nahen Osten dort sofort zu spüren sind, man erinnere sich nur an die Flüchtlingsströme 2015.

Die entscheidende Frage lautet: Wie wird die Hizbollah durch die libanesische Staatskrise kommen? Die Sanktionen von US-Präsident Donald Trump gegen Iran haben dazu geführt, dass Teheran Nasrallah nicht mehr in gleicher Weise finanziell und waffentechnisch aufrüsten kann wie früher, die explosive Lage im Libanon hat den Schiiten-Führer gezwungen, politisch vorsichtiger zu agieren. Bislang konnte die Hizbollah sich stets aus der Bredouille ziehen, indem sie vom internen Konflikt ablenkte und Scharmützel oder gar Kriege mit Israel provozierte. Wird sie das auch diesmal tun?

Die Libanesen würden es der Hizbollah nicht verzeihen, sie in Zeiten einer galoppierenden Inflation, stetig wachsender Arbeitslosigkeit und einer zerstörten Hauptstadt, nicht zu reden von der Coronapandemie, in einen Krieg zu verwickeln. Doch das aktuelle Chaos könnte von den Schiiten wohl genutzt werden, um die eigene Machtposition zu stabilisieren und auszubauen. Damit könnte es aber früher oder später eben doch zu einem Krieg mit Israel kommen. Die Hizbollah verfügt über rund 150 000 Raketen, die jedes Ziel in Israel treffen können. Um das eigene Land zu schützen, müsste die israelische Luftwaffe mit allergrößter Intensität vorgehen, vom Libanon würde nicht viel übrigbleiben. Eine solche Konfrontation könnte schließlich sogar den Iran, Saudi-Arabien und andere mit hineinziehen. Allein diese Aussicht sollte die westliche Staatengemeinschaft anspornen, den Libanon mit aller Kraft bei den notwendigen Reformen zu unterstützen. Frankreichs Präsident Macron allein wird es gewiß nicht richten.

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