Good-bye, Behaglichkeit

Von Meseberg hinab in die Mühen der Ebene? Zu Stand und Status der Ampelkoalition

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ISTOCKPHOTO.COM/CIRQUEDESPRIT
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Good-bye, Behaglichkeit

Von Meseberg hinab in die Mühen der Ebene? Zu Stand und Status der Ampelkoalition

Die aktuelle multiple Krise stellt alle westlichen Regierungen (und vor allem natürlich die Ukraine) vor Probleme und Aufgaben, die man nicht einmal seinem größten Widersacher an den Hals wünscht. Deutschland geht es im internationalen Vergleich wirtschaftlich zwar besser als den meisten anderen vergleichbaren Staaten, das öffentliche Ansehen der deutschen Bundesregierung spiegelt das aber nicht wider. Anfang August dieses Jahres verliehen immerhin 63 Prozent der in einer seriösen Umfrage Befragten ihrem Unmut Ausdruck und äußerten sich weniger oder gar nicht zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung. Im Unterschied zu den ersten Monaten der Ampelregierung stehen derzeit nicht mehr allein Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der vielen zu zögerlich und unkommunikativ erscheint, sowie seine unbedarft wirkende Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) in der Kritik. Inzwischen geraten auch andere Kabinettsmitglieder unter Druck, vor allem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), aber auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Und selbst der frühere Umfrageliebling, Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), wird für die sichtbar gewordenen handwerklichen Fehler seines Ministeriums bei der Gestaltung der „Gasumlage“ kritisiert. Diese sollte die hohen Extrakosten von Energieunternehmen abfedern, hätte in der ursprünglichen Konzeption aber eben auch Unternehmen entlastet, die so ziemlich alles nötig haben, nur keine finanzielle Unterstützung durch ihre kostengeplagte Kundschaft. Dass sich der Bundeswirtschaftsminister in einem Interview damit rechtfertigte, niemand habe gewusst, „wie dieser Gasmarkt verflochten ist“, lässt zum ungewohnten Medienphänomen „Habeck-Kritik“ gleich noch Häme hinzukommen – und das sogar aus den Reihen der Koalitionspartner.

Nun rächt sich also, was angesichts des Bundestagswahlergebnisses vom 26. September 2021 jedoch unvermeidbar war: Die weltanschauliche Ausrichtung der drei Regierungspartner und ihre politischen Vorstellungen etwa von Pandemie-, Russland-, Klima- oder Steuerpolitik sind oft genug ebenso unterschiedlich wie die zu bedienenden Interessen ihrer entsprechenden Klientel. Als die drei Koalitionspartner im Dezember 2021 nach schwierigen Verhandlungen der Öffentlichkeit und sich gegenseitig in ihrem Koalitionsvertrag versprachen, „mehr Fortschritt“ zu wagen, konnten sie noch hoffen, dass ihre größte Aufgabe „nur“ die Klimakatastrophe sein würde. Der Angriffskrieg der russischen Führung gegen die Ukraine und der Streit um die Lieferung sogenannter „schwerer Waffen“ kamen natürlich hinzu – aber eben nicht nur diese. Deutschland plagt sich sowohl mit einer deutlich größeren Abhängigkeit von russischem Gas als der Rest der EU wie auch mit einem von der Vorgängerregierung voreilig gegebenem energiepolitischen Versprechen: Die vom Kabinett Merkel II (CDU/CSU mit FDP, 2009-2013) nach der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima im Frühjahr 2011 angekündigte Transformation der fossil-nuklearen Energieerzeugung zu einer vollständig auf erneuerbaren Energien beruhenden Energieversorgung wurde im Weiteren von Bund und Ländern desaströs gemanagt. Nicht zuletzt scheiterten zentrale Maßnahmen zur Umsetzung der Energiewende am populistisch motivierten Kurs des bayerischen Teils der 16 Jahre lang regierenden Unionsparteien, also der CSU. Deren Führung entschied sich regelmäßig, lieber den Befindlichkeiten ihrer Wählerschaft als unpopulären Notwendigkeiten von Klimawandel und Energiesicherheit Rechnung zu tragen.

Und es gibt noch weitere Altlasten, die das Regierungsgeschäft erschweren. Das Misstrauen vor allem der Ostdeutschen gegenüber Politikern im Allgemeinen und den Regierenden im Besonderen ist auch im Jahr 31 nach der deutschen Vereinigung bei Veranstaltungen auf deutschen Marktplätzen unüberhörbar. Das hat unter anderem mit der nach wie vor weniger guten wirtschaftlichen Lage Ostdeutschlands, der höheren Arbeitslosigkeit sowie der Übermännlichung und Unterjüngung der Bevölkerung in den fünf beigetretenen Ländern zu tun, die aktuell noch ca. ein Fünftel der deutschen Gesamtbevölkerung ausmacht. Diese Unzufriedenheit in Ostdeutschland mit den verschiedenen Bundesregierungen ist vor allem seit dem dritten Einheitsjahrzehnt gestiegen – und zwar als Reaktion auf die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik der Jahre 2015 und 2016, von der sich die dortige Bevölkerung völlig überfahren fühlte. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, die die „Vertragsarbeiter“ aus Algerien, Kuba, Mosambik, Vietnam oder Angola nicht integriert, sondern kaserniert hatte, fehlte jede positive Erfahrung mit Migration. Auch politisch grundsätzlich gemäßigte Ostdeutsche beklagen mit Blick auf die Aufnahme von Flüchtlingen ein Versagen von Staat, Politik und auch Medien. Gleichzeitig fällt die russische Staatspropaganda besonders dort auf fruchtbaren Boden, wo der tradierte Antiamerikanismus und eine prorussische Haltung in weiten Teilen der Bevölkerung sich eher verhärten, als im Generationenverlauf abzuklingen. Auch die Protestierer gegen die Coronamaßnahmen traten in den meisten ostdeutschen Ländern radikaler auf als im Rest der Republik. Das ist nicht zuletzt auf die Strategie der in den fünf ostdeutschen Landtagen besonders stark vertretenen „Alternative für Deutschland“ (AfD) zurückzuführen. Die Partei unterlegt ihre generelle nationalkonservative Anti-„Establishment“-Attitüde gerade dort ganz bewusst mit öffentlichkeitswirksamen rechtsextremen Parolen, die aber – wenn zur Rede gestellt – ja gar nicht „so gemeint“ gewesen sein sollen.

Aus Sicht des allergrößten Teils der gesamtdeutschen Bevölkerung, die zu ca. 85 Prozent Extremismus, egal welcher Prägung, ablehnt, ist besonders ärgerlich, dass zur multiplen Krise auch noch Hybris hinzutrat: Der jüngste Fall von Bereicherung und Selbstüberschätzung kann zwar – anders als beim Maskenskandal, bei dem sich einzelne Bundestagsabgeordnete durch die Vermittlung von Coronaschutzmasken lukrative Provisionen auf Kosten der Steuerzahler verschafften – kaum der Politik zugerechnet werden. Aber das ist ein schwacher Trost. Schließlich ist der Rauswurf der Intendantin einer von insgesamt neun Landesrundfunkanstalten Wasser auf die Mühlen derjenigen, die das beitragsfinanzierte System des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das insgesamt als relevante Stütze der bundesdeutschen Demokratie gilt, sturmreif schießen wollen.

Bei fast allen genannten wie ungenannten Krisen gibt die Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz derzeit kein gutes Bild ab. Der Bundeskanzler, aber auch die SPD-Parteiführung sehen sich regelmäßig gezwungen, Positionierungen etwa von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) in der Steuerpolitik gutzuheißen, die von der eigenen Basis aus tiefer Überzeugung abgelehnt werden. Die unterschiedliche Sichtweise zum Beispiel auf Waffenlieferungen an die Ukraine (grün und gelb versus rot), auf eine Verlängerung der Laufzeit der noch stromproduzierenden drei deutschen Kernkraftwerke (rot und gelb versus grün) sowie auf eine angesichts der immensen Inflation angemessene Steuerpolitik (rot und grün versus gelb) veranlassen manche Beobachter, ein früheres Ende der Ampelregierung vorherzusagen. Es spricht jedoch wenig dafür, dass Bündnis 90/Die Grünen und die FDP womöglich unter Führung der Union besser zusammenarbeiten würden. Natürlich: Eine „Jamaikakoalition“ aus CDU/CSU, Grünen und FDP könnte sogar während der laufenden Legislaturperiode geschmiedet werden. Die Hürden für einen Kanzlerwechsel sind aber nicht nur verfassungsrechtlich hoch. So wäre der ohnehin politikverdrossenen Öffentlichkeit nicht zu erklären, wenn die beiden kleinen miteinander zerstrittenen Koalitionspartner während der größten Krise der Nachkriegszeit das Zugpferd – also den Bundeskanzler und den Koalitionspartner SPD – austauschen würden (und wer in diesen Fraktionen will eigentlich Friedrich Merz als Bundeskanzler?). Wer jedoch auf Neuwahlen hofft, die eine parlamentarische Mehrheit für einen grünen Bundeskanzler hervorbringen könnten, dürfte angesichts der Erfahrungen der Grünen mit Umfragehochs und Wahlergebnistiefs noch einige Jahre warten müssen. Abgesehen davon wird die FDP derzeit jedes Spiel mit dem Feuer in Form der Fünfprozenthürde tunlichst vermeiden.

Olaf Scholz hat seine Kanzlerschaft weniger seiner eigenen Strahlkraft oder der seiner Partei zu verdanken als den Fehlern der beiden anderen Kanzlerkandidaten, Armin Laschet (CDU) und Annalena Baerbock (Grüne), sowie der Professionalität seines eigenen Wahlkampfteams. Konfrontiert mit der verbreiteten Unzufriedenheit über die Bundesregierung bekommt der Bundeskanzler nun zu spüren, dass die aktive Unterstützung für ihn und seine Partei vor einem Jahr gerade mal bei etwas mehr als einem Viertel der Wählerschaft lag – bei einer Wahlbeteiligung von 76,5 Prozent. Im Wahlkampf konnte er vom zeitweiligen Dilettantismus seiner Mitwerber profitieren. Das Regierungsgeschäft gerade in der Zeit einer multiplen Krise funktioniert jedoch anders: Nun stehen der Bundeskanzler als Führungsperson (inklusive seiner Gedächtnisschwächen im „Cum-Ex“-Skandal), seine politischen Prioritäten, sein Management einer heterogenen Koalition sowie sein Kommunikations- und Umgangsstil im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Anders als im Wahlkampf tauchen die Fehlleistungen Dritter sein eigenes Handeln nicht mehr in ein milderes Licht, sondern werden dann, wenn sie mit den Koalitionspartnern verbunden sind, ebenfalls ihm zugerechnet. Das sorgt für Nervosität – im Kanzleramt und in den drei Parteizentralen.

Über all den aktuellen Konflikten, die die Bundesregierung – eigentlich – rasch abzuarbeiten hat, schwebt die Sorge, selbst der leistungsfähige deutsche Sozialstaat könnte damit überfordert sein, das aktuelle Kanzlerversprechen „you’ll never walk alone“ einzulösen. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass der absehbare weitere Anstieg der Lebenshaltungskosten und eine mögliche Gasknappheit tatsächlich zu sozialen Unruhen in Deutschland führen werden. Vermeintlich besorgte Warnungen etwa der AfD oder der Partei „Die Linke“ kann man getrost ignorieren; hier werden eigene Interessen verfolgt und versucht, von den so geschürten Ängsten zu profitieren. Aber dennoch: Das Thema ist medial gesetzt. Und einen Vorgeschmack auf die digital verstärkte Mobilisierungskraft einer kleinen Gruppe von Leuten, die die Gewährleistungen der freiheitlichen Demokratie missverstehen, sowie von Extremisten, die vom „Umsturz“ träumen, gab es bereits gelegentlich.

Russland streut Lügen, die gerade von der AfD gern aufgegriffen und zu eigenen Zwecken verbreitet werden: Die ukrainische Führung müsse „nur“ Teile ihres Staatsterritoriums aufgeben sowie eine Verhandlungslösung anstreben, und die deutsche Politik solle sich auf die vormals guten deutsch-russischen Beziehungen zurückbesinnen. Würde beides beherzigt – so die naive, die imperialistischen Ziele Putins und seiner Gefolgsleute ausblendende Weltdeutung –, dann könnten die Deutschen wieder in ihrer geliebten Behaglichkeit leben. Dem Märchen von drohenden sozialen Unruhen in Deutschland sollte man nicht Glauben schenken. Dennoch: Deutsche Gemütlichkeit wird es in diesem Winter nicht geben.

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