Ihr Andenken

Erst outsourcen, dann hängenlassen – hunderte Ortskräfte in Afghanistan sind nach dem deutschen Abzug größten Gefahren ausgesetzt

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Abschiedsgeschenke für die Soldaten: Kabir Popal aber darf nicht mit nach Deutschland
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Abschiedsgeschenke für die Soldaten: Kabir Popal aber darf nicht mit nach Deutschland

Ihr Andenken

Erst outsourcen, dann hängenlassen – hunderte Ortskräfte in Afghanistan sind nach dem deutschen Abzug größten Gefahren ausgesetzt

Kabir Popal spricht sehr gutes Englisch und auch ein paar Brocken Deutsch. Ein Wort hat sich der Afghane besonders eingeprägt, er spricht es akzentfrei aus nach 14 Jahren Dienst für die Deutschen: „Abschiedsgeschenk“.

Als Manager eines Geschäfts für Militärausrüstung im Camp Marmal der Bundeswehr in Mazar-i-Sharif war er verantwortlich für das Gravieren von Medaillen und Münzen, für das Bedrucken von T-Shirts oder Hoodies, die die deutschen Soldaten als Erinnerung mit nach Hause nahmen. Auch die Kameraden, die als letztes Kontingent Ende Juni vom Hindukusch nach Deutschland flogen, haben sich in seinem Geschäft – dem „Deutsche Service Post Exchange“ – noch mal eingedeckt. Am Ende mussten Popal und seine Kollegen wochenlang fast im Akkord arbeiten, um die Andenken fertigzustellen.

Mit dem Abschied der letzten Militärangehörigen war der Bundeswehreinsatz nach fast zwei Jahrzehnten und Kosten von 12,5 Milliarden Euro am 30. Juni beendet. In Berlin wurde zuletzt vor allem noch darum gestritten, wie die insgesamt 160 000 Soldaten, die in Afghanistan Dienst getan hatten, gewürdigt werden – nachdem sich kein einziger Spitzenpolitiker beim Empfang der letzten Maschine hatte blicken lassen. Nun soll es am 31. August einen Großen Zapfenstreich vor dem Reichstag geben, dabei wird dann auch der 59 gefallenen Bundeswehrsoldaten gedacht.

Realitätsferne Ausschlusskriterien

Was aber mit den Afghanen passiert, die teils jahrelang sehr eng mit den Deutschen zusammengearbeitet und ihren Einsatz erst möglich gemacht haben, bleibt unklar. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hatte Mitte April nach der Abzugsankündigung Deutschlands „tiefe Verpflichtung“ betont, „diese Menschen (…) nicht schutzlos zurückzulassen“. Verschiedene deutsche Afghanistan-Experten hatten im Mai einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie forderten: „Bringt unsere afghanischen Helfer in Sicherheit!“ Im Einzelnen verlangten die Wissenschaftler, Ex-Diplomaten und Militärs unbürokratische und zügige Prüfungsverfahren und den „Verzicht auf Ausschlusskriterien, die der Realität nicht gerecht werden“.

Den meisten Gefährdungsanzeigen von zuletzt bei Innen- und Verteidigungsministerium (bzw. Polizei und Bundeswehr) beschäftigten Afghanen wurde nun offenbar stattgegeben. Gleichfalls bekamen diejenigen Ortskräfte, die in den Jahren 2013 bis 2020 für die Deutschen gearbeitet hatten, eine erneute Chance zur Prüfung. Relativ unbürokratisch und schnell erlangten so knapp 500 Ortskräfte ein Visum, mitsamt den Angehörigen 2400 Personen. Doch auch diese Afghanen warten zum großen Teil noch vor Ort auf Ausreiseinformationen: Die Bundeswehr hat Mazar-i-Sharif verlassen, die Visastelle der Botschaft in Kabul ist seit einem großen Anschlag 2017 geschlossen, und die nun zuständige UN-Behörde International Organization for Migration (IOM) ist überfordert und unterbesetzt. „Zusätzlich wären noch rund 2000 weitere Personen berechtigt, den Visumsprozess zu starten, doch sie haben keine Anlaufstelle“, erklärt Marcus Grotian, Bundeswehrsoldat und Vorsitzender des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte.

Auf den Rückzug folgt der Vormarsch

Was wird nun aus ihrem Land? Die Deutschen sind schon weg, die letzten US-Soldaten dürften in den nächsten Wochen oder schon Tagen abfliegen. Dafür übernehmen die Taliban immer weitere Bezirke. Zuletzt eroberten sie den strategisch wichtigen Übergang Buldak-Chaman an der Grenze zu Pakistan. Mehrere Bezirkshauptstädte sind von ihnen umzingelt oder stehen bereits unter Beschuss. Laut dem renommierten Long War Journal haben die Taliban innerhalb von zwei Monaten das Gebiet unter ihrer Kontrolle verdreifacht. Besonders ihr Vormarsch im Norden erschreckt, traf die fundamentalistische Miliz dort vor 2001 doch auf den härtesten Widerstand.

Es scheint, als machten sich die Islamisten für den Sturm auf Kabul bereit. Vor diesem Hintergrund rief Frankreich in dieser Woche alle seine Bürger auf, Afghanistan zu verlassen. Auch die Hauptstadt ist längst nicht mehr sicher. Das musste am vergangenen Dienstag auch Kabir Bopal, der Abschiedsgeschenkeverkäufer aus dem Camp Marmal, feststellen. Nur knapp entging er einem Anschlag im Zentrum, bei dem mindestens fünf Menschen starben. Bopal war zuvor mit seiner Frau und seinen drei Söhnen aus Mazar nach Kabul geflüchtet, weil ein Taliban-Mullah seinem Vater gedroht hatte, er wisse, dass der Sohn für die Deutschen gearbeitet habe.

Todsünden in den Augen der Taliban

In der Hauptstadt angekommen schrieb der 32-Jährige erneut an das Auswärtige Amt. Die Antwort kam prompt: Man habe ihm bereits mitgeteilt, dass er für das Aufnahmeverfahren „nicht berechtigt“ sei, da er nie für eine deutsche Dienststelle gearbeitet habe. 14 Jahre in einem deutschen Unternehmen auf einem deutschen Stützpunkt gelten also nichts im Visaprozess. Wie ihm geht es tausenden anderen Afghanen. Viele von ihnen haben für Subunternehmer gearbeitet; darunter die Männer, die im Camp Marmal eine Kirche bauten. „Eine Todsünde in den Augen der Taliban“, sagt Grotian.

Bopal hat seine Ersparnisse mit nach Kabul genommen. Das Geld würde ausreichen, um für sich und seine Familie Flugtickets nach Deutschland zu bezahlen. Die Ortskräfte, die ein Visum erhalten, müssen ihre Reisekosten nämlich selbst tragen, für viele ist auch das unmöglich.

Winfried Nachtwei, früherer Bundestagsabgeordneter der Grünen und einer der Unterzeichner des Mahnbriefs vom Mai, ist entsetzt über das unmenschliche Abwickeln des Bundeswehreinsatzes. „Risiken wurden auf Beschäftigte abgewälzt“, klagt er, „nach dem Prinzip: erst outsourcen, dann hängenlassen.“

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