Im Labyrinth des Schweigens

Nicht vorbei – warum auch 2021 noch Verfahren gegen Menschen, die in Konzentrationslagern Dienst taten, geführt werden sollten

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PICTURE ALLIANCE/DPA | HEIKE ULRICH
„Im Labyrinth des Schweigens“ beginnt ein Schützling Fritz Bauers (gespielt von Alexander Fehling), im Archiv die Suche nach Auschwitz-Tätern, um sie vor Gericht zu bringen – es ist die Vorgeschichte der Auschwitz-Prozesse 1963. Die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen.
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PICTURE ALLIANCE/DPA | HEIKE ULRICH
„Im Labyrinth des Schweigens“ beginnt ein Schützling Fritz Bauers (gespielt von Alexander Fehling), im Archiv die Suche nach Auschwitz-Tätern, um sie vor Gericht zu bringen – es ist die Vorgeschichte der Auschwitz-Prozesse 1963. Die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen.

Im Labyrinth des Schweigens

Nicht vorbei – warum auch 2021 noch Verfahren gegen Menschen, die in Konzentrationslagern Dienst taten, geführt werden sollten





Ist das gerecht? Müssen diese alten Menschen jetzt noch vor Gericht stehen? Kann man die nicht in Ruhe lassen? So oder ähnlich lauten manchmal die Fragen, wenn Anklage erhoben wird gegen alte Männer und selten auch Frauen, die in Konzentrations- oder Vernichtungslagern Dienst taten und nun dafür zur Verantwortung gezogen werden sollen. Ein gewisses Unbehagen ist da zu spüren, wenn die Greise in den Gerichtssaal kommen oder geschoben werden. Gerade erst, im Februar 2021, erhoben die Staatsanwaltschaften Neuruppin und Itzehoe Anklage gegen einen 100-jährigen ehemaligen Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen und gegen eine 95-jährige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof.

Ebenfalls in Stutthof war Bruno Dey Wachmann, den das Hamburger Landgericht im vergangenen Sommer wegen Beihilfe zum Mord zu zweijähriger Bewährungsstrafe verurteilte. Nebenkläger in diesem Prozess waren rund 40 Überlebende des Konzentrationslagers und Angehörige von Opfern. Diesen Nebenklägern ging es vor allem um Gerechtigkeit, darum, dass ein deutsches Gericht endlich ausdrücklich feststellt, dass das, was ihnen angetan wurde, Unrecht war. Dazu später.

Ein Ort wie Stutthof bekommt durch diese Prozesse mediale Aufmerksamkeit, und das ist gut so. Etwa 65.000 Menschen kamen in diesem Konzentrationslager in der Nähe von Danzig ums Leben. Sie starben wegen der katastrophalen Bedingungen, wurden erschossen, vergast oder mit Phenolspritzen ermordet. Häftlinge, die nicht mehr „arbeitsfähig“ waren, überließen die Wachleute in Sterbezonen im Hauptlager sich selbst. Stutthof war, das bezeugen zahlreiche Berichte, die „Hölle auf Erden“, wie es Marga Griesbach formulierte, die im Dezember 1941 zunächst ins Getto Riga deportiert und von dort nach Stutthof verschleppt wurde. Marga Griesbach war eine der Nebenklägerinnen im Verfahren gegen Bruno Dey.

Wer an einem Ort wie Stutthof als Wachmann oder Sekretärin, im genannten Fall als Sekretärin des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe, Dienst tat, trug seinen oder ihren Teil dazu bei, dass diese Hölle existierte, dass Tausende Menschen erbärmlich starben. Wer dazu beitrug, dass ein Lager wie Stutthof funktionieren konnte, der machte sich der Beihilfe zum Mord schuldig, so urteilen deutsche Gerichte seit einigen Jahren. Und Mord, das gilt seit 1979, verjährt nicht.

Erst die Urteile gegen John Demjanjuk 2011 und gegen Oskar Gröning 2015 brachten eine Änderung der vorherigen Rechtspraxis, nach der konkrete Einzeltaten nachgewiesen werden mussten. Diese späte Änderung entsprach der Auffassung von Fritz Bauer, dem hessischen Generalstaatsanwalt und maßgeblichen Initiator des Auschwitz-Prozesses 1963-1965, der sich damals mit diesem Rechtsverständnis nicht durchsetzen konnte. In einigen Prozessen gegen das Personal reiner Vernichtungslager wurde dies zwar so gehandhabt, in den allermeisten Fällen jedoch nicht. Wären die Richter der Auffassung Bauers gefolgt, hätte in den 1960er Jahren in die Mitte der Gesellschaft ermittelt werden, hätten Zehntausende belangt werden müssen, inklusive vieler Richter selbst. Juristisches Handeln kann nicht verstanden werden ohne die gesellschaftlichen Bedingungen der jeweiligen Zeit. Und eine allgemeine Bereitschaft, sich umfassend mit den NS-Verbrechen und den vielen Beteiligten juristisch – oder auch gesellschaftlich – auseinanderzusetzen, war lange nicht vorhanden. Rechtsprechung ist wandelbar und hat immer auch mit dem Zeitgeist zu tun.

Dabei war in Folge des Ulmer Einsatzgruppenprozesses 1958 eine Behörde eigens zu dem Zweck gegründet worden, gegen NS-Verbrecher zu ermitteln, die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg. 13 Jahre nach Kriegsende fragte selbst damals schon manch einer, warum denn so spät noch ermittelt werden solle. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ermitteln auch heute noch. Mehr als 1,7 Millionen Karteikarten umfasst heute ihre Zentralkartei, gegliedert in Personen, Tatorte und Einheiten.

Die veränderte Rechtsauffassung setzte mit dem Prozess gegen einen ukrainischen Wachmann von Sobibór, John Demjanjuk, ein. Die Münchner Richter folgten hier der Argumentation der Anklage, dass kein konkreter Einzeltatnachweis erforderlich war, der Dienst im Vernichtungslager reichte aus, um die Schuld festzustellen. Dies war auch der Fall im Lüneburger Urteil gegen den „Buchhalter von Auschwitz“, Oskar Gröning, 2015, außerdem wurde hier nicht mehr zwischen dem Dienst in einem reinen Vernichtungs- und einem Konzentrationslager unterschieden. Der Bundesgerichtshof hat das Lüneburger Urteil 2016 bestätigt.

Die Ludwigsburger Ermittler wurden nach diesen Urteilen in vielen Fällen wieder aktiv, durchforsteten Karteien neu. Und im Archiv der Gedenkstätte Stutthof stießen sie auf ein Dokument mit der Unterschrift des ehemaligen Wachmanns Bruno Dey, den sie dann in Hamburg aufspürten.

Hätte es diese Rechtsprechung durch deutsche Gerichte früher gegeben, müssten sich heute nicht so viele darüber wundern, dass alte gebrechliche Menschen vor Gericht stehen. Zu lange ging es eben nicht gerecht zu, gab es gravierende Versäumnisse.

Wenn heute argumentiert wird, man solle doch die alten Menschen nach so vielen Jahren nicht noch behelligen, ist dem entgegenzuhalten, dass der Holocaust das gesamte weitere Leben der Überlebenden maßgeblich beeinflusst hat. Diese Geschichte, die doch, wie manche fordern, jetzt bitte mal vorbei sein solle, ist für sie und auch für ihre Nachkommen eben nicht vorbei. Die Überlebenden müssen noch immer jeden einzelnen Tag mit ihren Erinnerungen leben, damit, dass sie ihre Eltern oder Geschwister verloren haben, mitunter mitansehen mussten, wie ihre Liebsten in den Tod „selektiert“ wurden. Die Opfer und ihre Nachkommen haben in vielen Fällen jahrzehntelang darauf gewartet, dass deutsche Gerichte feststellen, dass diejenigen, die an den Verbrechen in irgendeiner Weise beteiligt waren, Unrecht getan haben. Den Nebenklägern geht es weniger um Strafe, denn um Urteile – um Gerechtigkeit. Für die Überlebenden hat es eine große Bedeutung, dass sich heute deutsche Gerichte ihrer Schicksale annehmen. Im Laufe des Prozesses gegen Oskar Gröning sagte eine ungarische Auschwitz-Überlebende: „Es muss festgestellt werden, dass es Schuld gibt, die nicht verjährt, Schuld, die morgen noch Schuld ist und übermorgen und bis in alle Ewigkeit.“

Die Anerkennung, dass es eine zentrale Bedeutung bei diesen Prozessen hat, den Opfern zuzuhören, ihren Erinnerungen Raum zu geben, ist Zeichen gesellschaftlichen Wandels. Diese Opferperspektive spielte in den 1960er Jahren kaum eine Rolle. Erst seit dem der 1970er-Jahre kam es hier, auch im Zusammenhang mit der Fernsehserie „Holocaust“, langsam zu einem Wandel der Geschichts- und Erinnerungskultur, die Stimmen der Opfer bekamen eine größere Bedeutung – bis sich dies auf die Rechtsprechung auswirkte, sollte es aber noch eine ganze Weile dauern.

Die momentan verhandelten Fälle dürften mit die letzten ihrer Art sein, die noch zu ermittelnden Täter sind weit über 90 Jahre alt, die meisten leben nicht mehr. Wir sollten diese letzten Verfahren aufmerksam beobachten, den Zeuginnen und Zeugen genau zuhören, die vielleicht das letzte Mal öffentlich von ihrem Schicksal berichten. Und vielleicht schauen wir uns die Angeklagten an, die keine sadistischen und bestialischen Täter waren. In einer anderen Zeit und einem anderen System hätten diese Männer und Frauen vielleicht, wahrscheinlich, nie etwas Böses getan. Sie waren jedoch an diesem Jahrhundertverbrechen beteiligt und haben damit den Massenmord ermöglicht. Das ist verstörend und sollte uns eine Mahnung sein. Dass diese Prozesse aber, wenn auch spät, überhaupt stattfinden, dass den Überlebenden zugehört und ihr Anliegen verstanden wird und dass die Verbrechen von damals verurteilt werden, ist ein wichtiges Signal in Zeiten, in denen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland bedrohlich zunehmen und eine Partei, die diese Unwerte propagiert, im Deutschen Bundestag sitzt.

Audio von Suse Lichtenberger.

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