In vielen Köpfen lebt die DDR weiter

Die Behauptung, dass westdeutsche Politiker und Medien an der in Ostdeutschland so starken AfD schuld seien, führt in die Irre. Eine Erwiderung

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PICTURE ALLIANCE/DPA/DPA-ZENTRALBILD
Baustelle Einheit(sdenkmal) in Berlin: Die Debatte wird fortgesetzt.
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Baustelle Einheit(sdenkmal) in Berlin: Die Debatte wird fortgesetzt.

In vielen Köpfen lebt die DDR weiter

Die Behauptung, dass westdeutsche Politiker und Medien an der in Ostdeutschland so starken AfD schuld seien, führt in die Irre. Eine Erwiderung

Max-Stefan Koslik macht es sich im Hauptstadtbrief vor einer Woche einfach, „den fremden Osten“ zu erklären. Zu einfach. Der Stellvertretende Chefredakteur der Schweriner Volkszeitung versucht, die Wähler der AfD vor dem Vorwurf des Ostbeauftragten der Bundesregierung, des sächsischen CDU-Abgeordneten Marco Wanderwitz, in Schutz zu nehmen, viele von ihnen seien „in einer Form diktatursozialisiert, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.“ Gegen die Aussage von Wanderwitz bemüht Koslik wieder einmal das Klischee, dass letztlich die westdeutschen Politikerinnen und Medien am überproportionalen Anteil von AfD-Wählern in Ostdeutschland schuld seien. Zur Stützung seiner These beruft sich Koslik zum Teil auf dubiose Zeugen.

Zustimmend zitiert Koslik zunächst den thüringischen CDU-Spitzenmann Mario Voigt, „belehrender Ton und Besserwissertum“ habe „dem Osten noch nie geholfen“. Das ist die übliche Keule gegen Westdeutsche, wenn einem Ostdeutschen ein Argument nicht gefällt. Nun kann man allerdings Wanderwitz, 1975 in Karl-Marx-Stadt geboren, nicht mit dem Verdikt abstrafen, ein Besserwessi maße sich an, den Osten erklären zu wollen.

Sodann bringt Koslik gegen Wanderwitz den Sprecher des Konservativen Kreises in der CDU Mecklenburg-Vorpommerns, Sascha Ott, in Stellung, der im eigenen Landesverband höchst umstritten ist. Herablassend belehrt Ott den Ostbeauftragten, er sei 1989 wohl noch zu jung gewesen, um zu wissen, wofür „die Menschen in der DDR“ damals „auf die Straße“ gegangen seien; sie seien „getrieben“ gewesen „von der Sehnsucht nach Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit“. Auf die Straße gegangen ist, auch wenn die Demonstrationen in Leipzig und anderswo beeindruckend waren, nur eine Minderheit; die Mehrheit der DDR-Bürger schaute hinter den Gardinen zu, bis der Ruf „Wir sind das Volk!“ keinen Mut mehr kostete. Das Verdienst an der friedlichen Revolution gebührt in erster Linie den wenigen damaligen Bürgerrechtlerinnen, die in der Tat ihre Existenz aufs Spiel setzten, aber von der Mehrheit ihrer Landsleute schon bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 ins Abseits gestellt wurden.

Ein weiterer Kronzeuge Kosliks ist der Publizist Klaus Wolfram, dem er das Etikett „ehemaliger Bürgerrechtler“ anheftet, das sogar Wolfram selbst für sich ablehnt. Wolfram verstand und versteht sich als „Sozialist“, allenfalls als „Linksoppositioneller“, der wegen „trotzkistischer Theorien“ aus der SED ausgeschlossen worden war. Wirkliche ehemalige Bürgerrechtler diffamiert Wolfram als „Karrieristen oder Moralisten“, namentlich nannte er in der von Koslik ausführlich referierten Rede in der Akademie der Künste Joachim Gauck, Ehrhart Neubert, Freya Klier, Vera Lengsfeld, Gerd Poppe und Werner Schulz.

Ja, die AfD ist kein „ostdeutsches Produkt“, aber sie findet im Osten einen fruchtbaren Nährboden. Und sie ist in ihren ostdeutschen Landesverbänden rechtsradikaler und fremdenfeindlicher als im Westen. Die Vorstellung, dass die AfD-Wählerinnen ökonomisch Abgehängte seien, widerspreche allen empirischen Befunden, sagt die an der Universität Jena lehrende Soziologin Silke van Dyk. Beim Einkommen unterschieden sich AfD-Wähler kaum vom nationalen Durchschnitt. „Statt die Wähler rechter Parteien pauschal durch die Notwehr-These zu entlasten, sollten wir ernst nehmen, dass viele genau deshalb die AfD gewählt haben, weil sie die rassistische Programmatik gutheißen.“ Wanderwitz hat recht: Ein Teil der ostdeutschen Bevölkerung hat „gefestigte nichtdemokratische Ansichten“. In vielen Köpfen lebt die DDR fort.

Gegen Wanderwitz wurde nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt der Einwand erhoben, die stärkste Wählergruppe der AfD seien die 18- bis 45-Jährigen, die die DDR gar nicht oder nur als Kinder erlebt hätten; bei ihnen könne man nicht davon sprechen, dass sie „DDR-sozialisiert“ seien. Tatsächlich weiß man aus Studien, dass die Biografien der Eltern und Großeltern sowie deren Erzählungen die Sichtweisen der Kinder beeinflussen. So ist etwa ein Viertel der nach 1989 geborenen Ostdeutschen laut Umfragen der Meinung, in der DDR habe es sich besser gelebt.

Der in Ostdeutschland stärker als im Westen verbreitete Rassismus hat seine Wurzel in der DDR-Staatsdoktrin, wonach der „Faschismus“ (wie die NS-Ideologie genannt wurde) im Realsozialismus ausgerottet sei. Und weil er besiegt sei, durfte er nicht existieren. Deshalb nannte die Staatssicherheit Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen und Neonazis, die andere Menschen zusammenschlugen, „Rowdytum“ und tat so, als gebe es keinen politischen Hintergrund. Und gleich seit 1990, als in Eberswalde ein junger Angolaner unter den Augen der Polizei zu Tode getreten wurde, als in Rostock-Lichtenhagen ein Nazi-Mob mit Molotow-Cocktails ein Wohnheim für Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambik angriff und in Hoyerswerda mehrere hundert Rechtsextremisten eine Asyl-bewerberstelle mit Betonplatten attackierten, applaudierten Tausende von „normalen“ Bürgern.

Von Günter Gaus, dem ersten Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR (1974 bis 1980) habe ich den schönen Merksatz gelernt: „Außer Schwangerschaft kenne ich nichts, was nur eine Ursache hätte.“ Ich will also nicht denselben Fehler wie Koslik machen, alles monokausal zu erklären. Natürlich ist wahr, dass die Transformation in Ostdeutschland in den 1990er-Jahren ihre Spuren hinterlassen hat und dass die Ostdeutschen bis heute in mancherlei Hinsicht gegenüber ihren westdeutschen Landsleuten benachteiligt sind. Allerdings sollte man Daten und Fakten nicht zurechtbiegen, damit die gewünschte Aussage herauskommt.

Nur ein Beispiel aus der von Koslik zitierten Studie von Michael Bluhm und Olaf Jacobs aus dem Jahr 2016, die immer gern herangezogen wird: Ihr zufolge nähmen nur 1,7 Prozent Ostdeutsche Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur ein, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung bundesweit 17 Prozent betrage. Der in Leipzig geborene, in Görlitz lehrende Soziologe Raj Kollmorgen zweifelt diese „kommagenaue Zahl“ seit Jahren an, deren Nennung „fast amüsieren“ müsse. Die Recherche der Autoren entspreche „nicht wissenschaftlichen Qualitätsstandards“, denn sie habe sich auf wenige Sektoren beschränkt, und die Elitepositionen seien willkürlich definiert (Die Zeit im Osten, 11.4.2019). Die aktuellste Studie, herausgegeben vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, beziffert den Anteil Ostdeutscher an den bundesdeutschen Eliten auf 10,1 Prozent (DeZIM Research Notes, 7.10.2020). Ja, da gibt es noch Nachholbedarf, aber man muss den Opfer-Mythos, den die AfD schamlos ausbeutet, nicht auch noch mit falschen Zahlen befeuern.

Zu guter Letzt zieht Koslik das Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung für seine These heran, dass die westdeutschen Medien an der „Verstetigung von ‚Ost’ und ‚West’“ schuld seien. Diese Streitschrift ist eher Comedy, behauptet doch einer der Stichwortgeber, ein einst systemtreuer Funktionär, allen Ernstes, in der DDR habe es eine „sehr breite und preiswerte Palette an Angeboten“ von Presseerzeugnissen gegeben; ein anderer, an der roten Journalisten-Kaderschmiede in Leipzig ausgebildet, sympathisiert unverhohlen mit rechtsextremen Verschwörungsideologien.

Man muss daran erinnern, dass es im Frühjahr 1990 die in roten Zahlen steckenden ostdeutschen Zeitungsverlage waren, die – mit Hilfe der letzten SED-Regierung unter Hans Modrow und lange vor der gern verteufelten Treuhandanstalt – westdeutsche Partner als Investoren zu Hilfe riefen. Die „ab dem Herbst 1989 neu aufgeblühte Presse-Landschaft in der DDR“, wie es in dem von Koslik zitierten Arbeitspapier heißt, ist keineswegs an der „übermächtigen Diskursdominanz“ der West-Medien zugrunde gegangen, sondern am Desinteresse der Ostdeutschen an der „Themenmischung“ journalistischer Neugründungen: „Stasi-Enthüllungen, Umwelt, Subkultur, Rathausskandale, Wendeverlierer, die Perspektive des ‚kleinen Mannes’“, wie sie etwa Die Andere Zeitung im Programm hatten, hätten „den braven Bürger dann irgendwie verschreckt“.

Warum ist die einst so beliebte und auflagenstarke Wochenpost verschwunden? Die ostdeutschen Leserinnen sind ihr untreu geworden. Wo sind die Leser der 15 SED-Bezirkszeitungen geblieben, die es vormals auf fünf Millionen Exemplare täglich brachten? Die daraus hervorgegangenen Regionalzeitungen verkaufen heute zusammen nicht einmal mehr eine Million.

Im Jahr 2020 betrug die Gesamtauflage aller regionalen Tagezeitungen – ohne die überregionalen – in Deutschland 10,3 Millionen Exemplare. Das bedeutet, dass die Leserdichte im Osten, gemessen an den Bevölkerungszahlen, wesentlich geringer ist als im Westen. Wenn die trotz notorischer Papierknappheit in hoher Auflage gedruckten Zeitungen damals nicht nur zum Einwickeln von Fischen verwendet wurden, dann ist aus dem „Leseland DDR“ (Honecker 1981) ein Landstrich der Nichtleser geworden, jedenfalls in Bezug auf Tageszeitungen. Es wäre interessant, die Gründe für diese Entwicklung zu erforschen.

Nur mit dem Finger auf den Westen zu zeigen, ist zu billig.

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