Ins Scheitern verliebt

Extinction Rebellion auf Sozialdemokratisch – die SPD verstolpert den Start ins Wahljahr

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PICTURE ALLIANCE/DPA | JÖRG CARSTENSEN
SPD-Parteivorsitzende: Saskia Esken
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PICTURE ALLIANCE/DPA | JÖRG CARSTENSEN
SPD-Parteivorsitzende: Saskia Esken

Ins Scheitern verliebt

Extinction Rebellion auf Sozialdemokratisch – die SPD verstolpert den Start ins Wahljahr

Was erlauben Walter-Borjans? Er kritisiert die Kanzlerin! „Wir haben eine Regierungschefin, die in der Koordinierung in dieser Krise einiges vermissen lässt“, sagte der SPD-Chef unlängst der Augsburger Allgemeinen. Gerade jetzt würden „besonders geforderte Verantwortungsträger aufseiten des Koalitionspartners“ CDU ihrer Aufgabe „nicht gerecht“.

Darf man das sagen? Ist das zulässig nach all den vielen Jahren der Ehrerbietung, die auch hochrangige Sozialdemokraten wie Sigmar Gabriel gegenüber Angela Merkel über die lange Zeit der Großen Koalition gezeigt haben. Ist das die feine Art? Nein, natürlich nicht. Aber ist es legitim zu Beginn eines Jahres, in dem im Herbst die Bundestagswahl stattfindet? Unbedingt und selbstverständlich.

Der politische Raum ist kein Ort der Behaglichkeit, sondern des permanenten Wettbewerbs. Um die besseren Konzepte. Und um die Macht. Denn ohne Macht kann keiner Konzepte umsetzen. Und die Wahrnehmung Norbert Walter-Borjans, gemeinsam mit Saskia Esken Vorsitzender der SPD, korreliert mit einem zunehmenden Gefühl in der Bevölkerung: dass vor allem CDU-Politiker schwach agieren in der Corona-Pandemie und Deutschland schlecht aussehen lassen im internationalen Vergleich – namentlich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Gesundheitsminister Jens Spahn und natürlich auch die Kanzlerin. Die Frauen und Männer der SPD stehen nicht in der ersten Reihe im Sturm, also ist es in einem Wahljahr erlaubt, dem Koalitionspartner, der auch ein Gegner ist, auf die Schwachstellen zu drücken. Zumal es in der Politik zugeht wie an der Börse: Im vergangenen Frühjahr und Sommer hatte die Union eine Hausse, weil die Handhabe der Pandemie professionell erschien. Jetzt sind ihr Corona und das Impfen entglitten, also setzt die Baisse am Meinungsmarkt ein. Das geht in Ordnung so – oder fair enough, wie der Brite sagt.

Nach diesem Wirkungstreffer aber hat sich die SPD sofort wieder auf das verlegt, was sie oft zum eigenen Nachteil tut: auf Programmatik und Ideologie. Beides fällt meistens nachteilig auf sie zurück und bei beidem hat sie ebenso oft Pech – wie ihr das einmal ein Kabarettist beim Nachdenken generell bescheinigte. Nur selten hatte die programmatische Arbeit der SPD eine ähnlich erfrischende Wirkung wie beim Godesberger Programm.

Meist bestimmen ideologische Versatzstücke des Klassenkampfes das Programm – und bestätigen damit alle Vorbehalte, die manche Menschen gegen diese Partei entwickelt haben. Gerade in jener entscheidenden Wählergruppe, die gerade noch erwog, bei Wahlen wieder auf die SPD zu setzen.

Also beschloss die SPD dieser Tage ein Wahlprogramm für die Bundestagswahl, von dem im kollektiven Gedächtnis vor allem hängen bleibt: Vermögensteuer, Spitzensteuersatz anheben, Tempo 130 auf den Autobahnen.

Diese Dreifaltigkeit mag die Linken in der SPD glücklich machen. Aber sie passt weder zu ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, dem die Genossen noch weniger Beinfreiheit zubilligen als seinerzeit Peer Steinbrück – und den hatten sie schon in Fußfesseln gelegt. Kleiner historischer Verweis: Schon Gerhard Schröder hatte als Kanzlerkandidat und Kanzler alle Hände voll damit zu tun zu beteuern, dass „Oma ihr klein Häuschen“ nicht in Gefahr gerate.

So fehlt einem Wahlkämpfer aber jeder Wumms, wenn er immer erklären muss, warum seine Vorhaben so schlimm schon nicht werden für die eigene Klientel.

Zweiter historischer Hinweis: Als Sigmar Gabriel noch SPD-Chef und die Nummer eins der Sozialdemokratie war, bat er seinen Hausökonomen, so lange zu rechnen, bis sich ein erhöhter Spitzensteuersatz oder eine Reichensteuer wirklich für die Entlastung der kleinen bis mittleren Einkommen lohne. Sein Wirtschaftsexperte konnte nicht liefern, weil auch er zugunsten der Ideologie mathematische Gegebenheiten nicht außer Kraft setzen konnte. Kurzum: An beiden finanzpolitischen Stellschrauben müsste zu stark gedreht werden, um hinreichend Ertrag zu erhalten und zugleich nicht zu viel politischen Schaden anzurichten – also das gewünschte Wohlgefühl bei den Saskia Eskens und Kevin Kühnerts und ihren sozialdemokratischen Seelenverwandten zu erreichen.

Die Namen Esken und Kühnert leiten wie von selbst über zum aktuellen Streit der SPD um die Äußerungen Wolfgang Thierses – und in etwas abgeschwächter Form Gesine Schwans. Thierse und Schwan waren mit kritischen Äußerungen zu unseligen Auswirkungen übereifriger Identitätspolitik aufgefallen. Thierse hatte dazu erst einen klugen und bedächtig formulierten Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen veröffentlicht und anderntags mit einem etwas impulsiveren Interview im Deutschlandfunk nachgelegt. Wer das Interview am Morgen hörte, dem konnten sich zwei gedankliche Zurufe aufdrängen. Erstens: Danke und alle Achtung, Wolfgang Thierse! Zweitens: Jetzt legen Sie aber mal besser sofort die Ohren und die – doppelte – Schutzmaske für die Kotböe an, die gleich über Sie hereinbrechen dürfte.

Und so kam es. Wolfgang Thierse fand sich plötzlich mit dem Umstand konfrontiert, dass sich seine Parteichefin Esken für ihn schämte, ebenso wie deren Schöpfer und Parteivize Kevin Kühnert.

Es fällt schwer, bei dieser Verschiebung der politischen Skala innerhalb der SPD nicht in fassungsloses Kopfschütteln zu verfallen. Ausgerechnet Thierse und Schwan, der einstige Bundestagspräsident der eine, die einstige Bundespräsidentenkandidatin der SPD die andere, beide rechtschaffene Sozialdemokraten am eher linken Ende des innerparteilichen Spektrums, sehen sich plötzlich Vorwürfen gegenüber, die bislang einem Thilo Sarrazin vorbehalten blieben? Das mutet so absurd an, dass Thierse seiner Fassungslosigkeit in einem Brief an die Parteichefin Luft verschaffen musste.

Man müsse „ins Gelingen verliebt sein“, hat Gerhard Schröder mit Ernst Bloch gerne gesagt. Die Sozialdemokraten von 2021 sind eher ins Scheitern verliebt. Wer sie – auch als gewogener potenzieller Wähler – in den ersten Monaten dieses Wahljahres betrachtet, kommt um den Eindruck nicht herum, dass diese altehrwürdige und einst stolze Partei mit dieser Führung ins Stadium der finalen Selbstauflösung eingetreten ist.

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