Kaukasische Krisenkreise

Wieder liefern sich die Streitkräfte Armeniens und Aserbaidschans Gefechte. Wie gefährlich ist die Eskalation im Südkaukasus?

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SHUTTERSTOCK/LOPATIN
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Kaukasische Krisenkreise

Wieder liefern sich die Streitkräfte Armeniens und Aserbaidschans Gefechte. Wie gefährlich ist die Eskalation im Südkaukasus?

Am späten Donnerstagabend packte Lara Aharonian einen Notfallkoffer und stellte ihn an ihre Wohnungstür. Sie hatte als Kind den Krieg im Libanon erlebt, bevor sie Jahre später nach Jerewan zog. Die Hauptstadt Armeniens liegt mehr als 200 Kilometer westlich der Frontlinie, wo sich armenische Truppen Gefechte mit dem Gegner Aserbaidschan liefern. Aharonian fühlte sich an ihre Kindheit erinnert, weil nordöstlich von Jerewan Lichtpunkte den Nachthimmel erleuchteten. Die Streitkräfte hätten die Flugabwehr eingesetzt, um Drohnen aus Aserbaidschan zu zerstören, erklärte die Regierung dazu.

Es ist ein weiterer Schritt der Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die militärischen Operationen hatten am Morgen des 27. September in einem Ausmaß und einer Dynamik begonnen, wie es sie seit Vereinbarung eines Waffenstillstandes 1994 nicht gegeben hat. In den Jahren seitdem war es immer wieder zu Schießereien und Gefechten gekommen. 2016 nahm Aserbaidschan bei viertätigen Auseinandersetzungen Territorium ein. Zuletzt gab es im Juli Gefechte nordöstlich des eigentlichen Konfliktgebietes Bergkarabach.

Diesmal finden die Kämpfe entlang der gesamten Frontlinie von Bergkarabach und darüber hinaus statt. Neben Panzern, Artillerie, Kampfhubschraubern und Drohnen kommen inzwischen auch Kampfjets zum Einsatz. Beide Staaten riefen das Kriegsrecht aus und mobilisierten Reservisten. Sie beklagen zivile Opfer beim Beschuss von Dörfern.

Einen Aufruf der Präsidenten der USA, Frankreichs und Russlands zum Stopp der Kämpfe lehnte Aserbaidschan umgehend ab. Präsident Ilham Alijew zeigt bislang keine Verhandlungsbereitschaft. Seit Jahren lässt er keinen Zweifel daran, dass seine Truppen Bergkarabach und benachbarte Gebiete zurückerobern würden, sobald sie dazu in der Lage seien. Schließlich gehöre das Territorium völkerrechtlich zu Aserbaidschan.

Armenien hatte im Krieg Anfang der 1990er-Jahre mit russischer Unterstützung Bergkarabach erobert, das überwiegend von Armeniern bewohnt wird. Darüber hinaus hatten armenische Truppen sieben angrenzende Gebiete eingenommen, aus denen etwa 600 000 Aserbaidschaner fliehen mussten. Armenien begründet die Besetzung dieser Gebiete damit, dass Bergkarabach nur so geschützt werden könne. Allerdings siedelten sich in den vergangenen Jahren auch dort Armenier an. Inzwischen ist eine dritte Verbindungsstraße nach Bergkarabach in Planung. Zuletzt provozierte die Führung in Bergkarabach Aserbaidschan mit der Ankündigung, das Parlament in die Stadt Schuschi zu verlegen, die vor dem Krieg aserbaidschanisch war.

Während die Armenier Tatsachen schufen, kamen die Vermittlungsbemühungen Russlands, der USA und Frankreichs nicht voran. Die drei Länder führen die „Minsk-Gruppe“ im Rahmen der OSZE an, die seit 1994 einen dauerhaften Frieden aushandeln soll. Doch bisher scheiterte jeder Kompromissvorschlag am Widerstand der Bevölkerungen in Armenien und Aserbaidschan, die den hinter verschlossenen ausgehandelten Vereinbarungen nicht trauten. Hinzu kommt, dass die Führungen beider Staaten in den vergangenen 30 Jahren den Konflikt auch immer wieder dazu nutzten, um von innenpolitischen Problemen wie jetzt in der Coronakrise abzulenken.

In der Konsequenz erklärte Alijew kürzlich die Verhandlungen für gescheitert und erhält dabei Unterstützung von der Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützt den turksprachigen „Bruderstaat“ offen gegen Armenien und nimmt dabei immer weniger Rücksicht auf die sicherheitsstrategischen Ansprüche Russlands, das den Südkaukasus als seine vorgelagerte Sicherheitszone reklamiert und Schutzmacht Armeniens ist.

Die Führung in Jerewan wirft der Türkei umfangreiche militärische Unterstützung für Aserbaidschan vor. Den Sommer über hatten türkische Streitkräfte an Militärübungen dort teilgenommen, für die auch F-26-Kampfjets nach Baku gebracht worden waren. Diese seien auch jetzt im Einsatz, behauptet Armenien. Ebenso soll die türkische Luftwaffe die Führung bei Einsätzen im Luftraum über Bergkarabach übernommen haben und deren Piloten Drohnen türkischer Herkunft steuern. Die Türkei und Aserbaidschan dementieren dies.

Immer mehr Belege finden sich indes dafür, dass eine türkische Sicherheitsfirma in Syrien Kämpfer angeheuert hat, um sie nach Aserbaidschan zu bringen. Sowohl Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als auch das russische Außenministerium sprachen dies inzwischen an. Die Regierung in Moskau zeigte sich „zutiefst besorgt“ und forderte den Rückzug „ausländischer Terroristen und Söldner“, ohne allerdings die Türkei direkt anzusprechen.

Für Russland ist das Engagement der Türkei aufseiten Aserbaidschans problematisch. Zwischen Moskau und Jerewan gibt es mehrere Sicherheitsabkommen. So vereinbarten beide Seiten im Jahr 2010 den Verbleib eines russischen Militärstandorts in Armenien bis 2044 im Gegenzug für Sicherheitsgarantien und die Lieferung russischer Waffen. Außerdem gibt es im Rahmen der „Organisation über den Vertrag der kollektiven Sicherheit“ (OVKS) eine Beistandsklausel für Armenien, allerdings nicht für das Konfliktgebiet Bergkarabach. Russland ist zwar daran interessiert, den Konflikt aufrechtzuerhalten, um Einfluss in der Region zu bewahren. Bei einem Krieg aber könnte es die Kontrolle über die Entwicklungen verlieren. Zeigt sich die Türkei allerdings weiterhin so aktiv, wird Russland seine bisherige Zurückhaltung aufgeben müssen, will es seine sicherheitsstrategischen Ansprüche aufrechterhalten.

Möglich ist, dass Erdogan und Putin Arrangements finden wie in Syrien und Libyen, wo beide ebenfalls gegnerische Seiten unterstützen. Notwendig wäre dann erheblicher Druck auf Armenien und Aserbaidschan, einer Waffenruhe zuzustimmen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich der Konflikt weiter ausdehnt – auch auf die Nachbarländer Georgien im Norden und Iran im Süden, wo armenische und aserbaidschanische Minderheiten leben und wo wichtige Transportrouten verlaufen.

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