Letzte Lockerungen

Wer rafft sich auf und organisiert ein gemeinsames klares Handeln gegen das Virus?

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PICTURE ALLIANCE/DPA/BUNDESREGIERUNG | STEFFEN KUGLER
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PICTURE ALLIANCE/DPA/BUNDESREGIERUNG | STEFFEN KUGLER

Letzte Lockerungen

Wer rafft sich auf und organisiert ein gemeinsames klares Handeln gegen das Virus?

Deutschland wird derzeit von Wellen heimgesucht – Infektionswellen, Lockerungswellen, (noch etwas schwächlichen) Impfwellen und Wellen des politischen Versagens.

Unbestritten, die Pandemie hat uns vor einem Jahr mehr oder weniger unvorbereitet getroffen mit einer ersten Welle, die uns zu Ostern 2020 eine Zahl von 2928 intensivpflichtigen Covid-Patienten bescherte.

Es wurde konsequent gehandelt, und die erste Welle ebbte mehr oder minder glimpflich ab. Nun gab es unangenehme Mahner, die von einer zweiten Welle sprachen. Anfang Oktober erklärte die Kanzlerin der Nation – auch den Ministerpräsident:innen? – was ein exponentielles Wachstum ist. Inkonsequentes Handeln (sprich: ein sanfter Lockdown) führte am Jahresende zu 5745 intensivpflichtigen Patienten und bis zu tausend Toten am Tag.

Der Lockdown wurde eher verlängert als verschärft, Hoffnung keimte, aber eine Virusmutation machte sich breit und gefährdete den bescheidenen Rückgang der Zahlen. Mitte März hatte man ein Niveau erreicht, das dem Gipfel der ersten Welle 2020 entsprach. Die epidemiologischen Experten, deren Aussagen inzwischen eine hohe Zuverlässigkeit erreicht hatten, prognostizierten eine dritte Welle mit Inzidenzen, die nochmals höher würden als zur Jahreswende. Die Intensivmediziner warnten, da die Intensivbetten noch mit den Patienten der zweiten Welle belegt waren. Auch ein Blick in die umliegenden Länder hätte gezeigt, was da drohte.

Der einzige Hoffnungsschimmer, das langsam anlaufende Impfen, trübte sich durch die Vorgänge um AstraZeneca. Die Biologie des Menschen erwies sich als unberechenbar, es kam zu seltenen unerwarteten Komplikationen, zu Stopps, Altersempfehlungen, erneuten Stopps und neuen, gegenteiligen Altersempfehlungen. Eigentlich erklärbare Vorgänge, aber im aktuellen Kontext nicht vermittelbar.

Umfragen zeigten, dass immer noch ein hoher Anteil der Bevölkerung mit Einschränkungen, ja mit Verschärfungen einverstanden war – laut jüngstem ARD-Deutschlandtrend nahm die Zahl derjenigen, die für strengere Maßnahmen sind, gegenüber Mitte März um 16 Prozent zu.

Menschen und Wissenschaft wussten, was kommen wird. Doch was machten unsere verantwortlichen Politiker:innnen? Sie tagten 15 Stunden, erfanden eine untaugliche Lösung, die wieder einkassiert wurde, und machten Modellversuche. Auch ließ man die Menschen in den Mallorca-Urlaub abreisen. Keine Spur von verantwortlichem Handeln. Ein frecher Tweet des Autors dieser Zeilen am vergangenen Sonntag, Stunden vor dem TV-Auftritt der Kanzlerin, brachte offenbar wegen der großen Zustimmung die Lage auf den Punkt: „Gegen die Wissenschaft und Mehrheitsmeinung machen 16 MPs Lockerungsübungen. Nach der 3. Welle müssen sich Staatsanwälte dann fragen, ob dies nicht Beihilfe zu Körperverletzung mit Todesfolge ist.“

Auch im Interview der Kanzlerin wurde die Verantwortung der Länder zum Thema. Doch wer gehofft hatte, dass sich jetzt einer der MPs zum Klassensprecher aufraffe und ein gemeinsames klares Handeln organisierte, sah sich enttäuscht. Da kam mehr oder minder: nichts.

Man ist dafür und dagegen, mal modelliert man oder schränkt ein, man mahnt oder stellt sich tot. Nur eines ist konsequent und kümmert sich nicht um das Scheitern der Politik: Das Virus, vor allem seine gefährliche Mutante, infiziert alle, die erreichbar sind.

Man wird sich am Jahresende noch an diese Wochen erinnern, die Leben kosteten, Karrieren zerstörten und den Glauben an unser Gemeinwesen tief erschütterten.

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