Macht und Mitte

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Macht und Mitte

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Als wir Mitte der 1980er-Jahre durch China reisten, fiel abends in den Großstädten vor allem eines auf: die Dunkelheit. Es gab kaum Straßenbeleuchtungen und so gut wie keine Autos, nur Fahrradfahrer auf bleischweren schwarzen Zweirädern.

Dann kam die Öffnung und mit ihr die Euphorie des Westens, an China als riesigem Absatzmarkt Milliarden zu verdienen. Je mehr mit der chinesischen Aufholjagd dort der Wohlstand stieg, desto mehr wurde das Land zum Absatzeldorado für deutsche Konzerne. Bis heute verkauft VW fast die Hälfte seiner Autos im Reich der Mitte. Noch im Coronajahr 2020 „rettete“ China die deutschen Autobauer.

Napoleons Warnung

Doch daran denkt keiner mehr. Derzeit steht die Bedrohung durch das Land der Superlative im Zentrum – der Westen wolle, ja müsse dem chinesischen Expansionsdrang etwas entgegensetzen. Neu ist die Angst vor China nicht: Wenn China erwacht, wird die Welt zittern, hatte Napoleon einst gewarnt. Der bekannte Spruch wurde auch damals schon zitiert, als noch Funzeln die holprigen Straßen in Shanghai beleuchteten.

Es ist an der Zeit, ein wenig Tremolo aus der China-Angstdebatte zu nehmen. China ist längst erwacht, und der Westen hat davon enorm profitiert. Es war zu erwarten, dass China irgendwann die gleichen Ansprüche im globalen Wettbewerb geltend machen würde, wie sie die USA seit dem Ersten Weltkrieg vorgetragen und praktiziert haben. Dabei geht es nicht nur um die Wirtschaft. Es geht auch um die Vorherrschaft auf militärischem und politischem Feld, es geht um Einfluss und natürlich Unterwanderung, es geht um das politische System. Dass uns dabei im Westen der Gedanke an eine amerikanische Supermacht weniger bedrückend erscheint als eine chinesische, liegt nahe.

Gegenseitige Abhängigkeit

Chinas Regierung hat über die letzten Jahrzehnte konsequent drei Ziele verfolgt: die nationale Souveränität, die innenpolitische Stabilität und den wirtschaftlichen Aufholprozess. Die drei Ziele sind interdependent und darüber hinaus die Grundsäulen für den politischen Machterhalt der Kommunistischen Partei. Mehr noch: Der Wirkungszusammenhang besteht auch umgekehrt, dass nämlich der Machterhalt der KP – noch – eine Grundvoraussetzung für diese drei strategischen Ziele ist. Hinzugekommen ist der weltpolitische Anspruch. Dieser ist so normal und erwartbar wie die Expansionsbestrebungen des Westens nach 1989. Amerika und Europa tun gut daran, sich für das neue Wettbewerbstempo endlich zu wappnen, sollten dabei aber nicht vergessen, dass China für seinem Erfolg, den es für die innenpolitische Stabilisierung so dringend braucht, erstens auch vom Westen abhängig ist und dass es zweitens so manches Problem unserer Erde gibt, das weder die USA, noch Europa und auch nicht China alleine lösen können.

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