Made in China

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Made in China

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Das chinesische Zeichen 恒 (héng) erlangt in diesen Tagen eine zweifelhafte Konnotation. Übersetzt wird es eigentlich mit „ausdauernd“, „beständig“ oder „konstant“ und ziert in Kombination mit dem chinesischen Zeichen 大 (dà) für „groß“ einen Immobilienkonzern, dessen Geschäftspolitik dem darin liegenden Versprechen derzeit wohl kaum gerecht wird. Der chinesische Wohnungsbau-Gigant hat sich im Englischen den Namen Evergrande gegeben, was deutlich banaler klingt als das, was in der Bedeutung der chinesischen Zeichen tatsächlich mitschwingt: Erfolg durch Beständigkeit.

Beständig aber ist gerade gar nichts bei Evergrande. Der Konzern wankt und kann seine Zahlungsverpflichtungen nicht bedienen. Ob er das Geld hat, die Wohnungen fertigzustellen, die Millionen seiner Kunden schon bezahlt haben, steht mehr als in Frage. Seine Verschuldung von mehr als 300 Milliarden Dollar ist exorbitant. Angeblich bereitet die Zentralregierung das Land auf seinen Kollaps vor.

Das Problem ist in dreifacher Hinsicht heikel. Erstens ist Evergrande mit seinem Finanzgebaren kein Einzelfall. Im Gegenteil: China ertrinkt in Schulden. Provinzen, Kreise, Städte, Staatskonzerne, der Zentralstaat – sie alle leben auf Pump. Inzwischen erreicht die Schuldenlast fast 300 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Riesenreichs. Zweitens macht die hochverschuldete Immobilienwirtschaft einschließlich der Baubranche einen beachtlichen Teil des chinesischen Bruttoinlandsprodukts und damit der chinesischen Wachstumsdynamik aus. Und drittens ist China zum Wirtschaftswachstum verdammt, liegt doch genau darin das Versprechen der permanenten Wohlstandsmehrung, mit dem sich die autoritäre Zentralregierung das Milliardenvolk gewogen hält. Aufgrund dieser Zusammenhänge könnte Evergrande ganz China in die Krise stürzen.

Ein anderer dritter Weg

Aus westlicher Sicht ist der Kurs, den China seit der wirtschaftlichen Öffnung unter Deng Xiaoping verfolgt, so etwas wie eine gigantische Versuchsanordnung: Ein kommunistisches Regime mit dem totalen Durchgriffsrecht auf jedes Feld der volksrepublikanischen Gesellschaft versucht, sich ausgerechnet der wohlstandstreibenden Vorteile zu bedienen, die eine kapitalistische Ordnung mit sich bringt.

Dass die Regierung gedacht hat, in dieser Anordnung gebe es keine Trade-offs, ist fast nicht vorstellbar. Wachstum zulasten finanzieller Solidität geht eben nicht lange gut. Aber vielleicht hat Peking gehofft, in seinem autoritären System die Schuldenwelle leichter einzudämmen. Sollte ihm das gelingen, um dadurch auf den Pfad der Beständigkeit zurückzukehren, sind Wachstumseinbußen die notwendige Folge.

Wie das Milliardenvolk darauf reagiert, wird mindestens so spannend wie wenn erst Evergrande und dann womöglich auch noch andere Schuldenpyramiden des Landes in sich zusammenstürzen.

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