Massagesitze abwracken

In der Verkehrspolitik bewegt sich nur scheinbar etwas. Entscheidende Weichenstellungen scheitern bisher an unterschiedlichen Positionen der Ampelparteien. Dabei sind die Defizite so offensichtlich wie noch nie

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WWW.ISTOCKPHOTO.COM/NIRAIN
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Massagesitze abwracken

In der Verkehrspolitik bewegt sich nur scheinbar etwas. Entscheidende Weichenstellungen scheitern bisher an unterschiedlichen Positionen der Ampelparteien. Dabei sind die Defizite so offensichtlich wie noch nie

Überfüllte Bahnsteige und Punks auf Sylt. Genervtes Bahnpersonal und überlastete Schienenwege. Das 9-Euro-Ticket ist ein Verkaufsschlager mit Nebenwirkungen. In einer Hinsicht ist der Billigfahrschein für den bundesweiten Nahverkehr ein riesiger Erfolg. 40 Millionen davon verkauften die Verkehrsbetriebe landauf, landab. Der Streit um eine Nachfolgeregelung ist in vollem Gange. Doch bis zum Ablauf der Aktion Ende August wird es kaum eine Verständigung darüber geben. Das ist sogar wünschenswert. Denn allein eine hohe Nachfrage macht weder eine Verkehrswende aus noch sind alle damit verbundenen Ergebnisse positiv. Das werden die verschiedenen Studien dazu in den kommenden Wochen und Monaten zeigen.

So beachtenswert der durchaus riskante Großversuch im Nahverkehr ist, kann er doch nicht über den Stillstand in der Verkehrspolitik hinwegtäuschen. Die Stagnation lässt sich gut am Pendant des 9-Euro-Tickets ablesen, dem Tankrabatt. Den hat die FDP durchgesetzt. Als Gegenleistung gestanden die Liberalen den Grünen den vergünstigten ÖPNV zu. Der mit drei Milliarden Euro 500 Millionen Euro mehr verschlingende Tankrabatt verschwand schnell aus den Schlagzeilen. Der politische Geländegewinn für die FDP blieb aus. Ende des Monats kehrt wohl beides wieder in die Ausgangsposition zurück.

Dabei hat der Koalitionsvertrag bei Verkehrsexperten einige Hoffnungen ausgelöst. Die Bahn soll danach erstmals „erheblich mehr Geld“ erhalten als die Straße, die Häfen ertüchtigt, eine Ladeinfrastruktur für Elektroautos flächendeckend aufgebaut werden. Bis Ende des Jahrzehnts sollen 15 Millionen E-Autos auf den Straßen rollen. Für den Güterverkehr auf der Schiene peilt die Koalition einen Marktanteil von 25 Prozent an. Das Netz und die Bahnhöfe werden zu einer gemeinnützigen Gesellschaft innerhalb des Bahnkonzerns zusammengeführt. Die Gewinne aus dem Betrieb der Stationen und Trassen können dann sicher wieder für Investitionen ausgegeben werden, statt wie bisher in der großen Kasse des Konzerns zu landen. Schließlich will die Ampel auch noch den Radverkehr fördern, um nur einige Beispiele zu nennen.

Doch sichtbar sind bisher vor allem die Versäumnisse der Vergangenheit. Und davon gibt es reichlich: Die Bahn ächzt unter Kapazitätsengpässen und der Last vieler Baustellen. Zeitweilig kamen nicht einmal sieben von zehn Fernverkehrszügen pünktlich ans Ziel. Der Ansturm auf das 9-Euro-Ticket hat die Situation noch verschärft. Auch das anscheinend durch marode Betonschwellen ausgelöst Unglück in Bayern hat Nachwirkungen. 200 000 Schwellen müssen geprüft, Strecken für den Austausch gesperrt werden.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat zwar schnell auf die desolate Lage auf der Schiene reagiert. „Die Bahn ist jetzt Chefsache!“, sagte er und warf dem Unternehmen eine ungenügende Informationspolitik über den katastrophalen Zustand des Netzes vor. In seinem Ministerium soll nun ein Gremium als eine Art zweiter Aufsichtsrat über die Sanierung wachen. Herausgekommen ist bei der Chefsache bisher nur ein Strategiewechsel bei der Sanierung der Trassen. Ab 2024 werden nach und nach ganze Korridore komplett gesperrt und grundsaniert. Danach sollen sie für viele Jahre störungsfrei bleiben.

„Der Koalitionsvertrag enthält gute Ansätze“, lobt der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland (VCD), „bleibt aber an vielen Stellen zu vage.“ Eine sozialökologische Verkehrswende werde so nicht gelingen. Bisher behalten die Kritiker recht. Kaum eine Stellschraube zieht Wissing fest. Ein Tempolimit, dass beim Energiesparen helfen und den Verkehr sicherer machen würde, lehnt die FDP ab. Nach Streit in der Koalition mochte sich die Ampel nicht einmal auf das EU-Ziel verständigen, ab 2035 keine Autos mit fossilen Antrieben mehr zuzulassen. Mit synthetischen Kraftstoffen sollen Ottomotoren weiter zulassungsfähig bleiben.

Die FDP erweckt den Eindruck, sie stehe bei der Verkehrswende auf der Bremse, auch wenn Wissing das Gegenteil betont. Doch spätestens der enge Kontakt von Parteichef Christian Lindner mit Porsche-Vorstand Oliver Blume nährt den Verdacht, dass den Liberalen der Schutz der Automobilindustrie wichtiger ist als ein schneller Umstieg auf umweltfreundliche Mobilitätsangebote.

Die aktuelle Debatte um ein Nachfolgeangebot für das 9-Euro-Ticket zeigt exemplarisch, warum sich zu wenig bewegt. Lindner lehnt eine Fortführung auf Kosten des Bundes ab und kanzelt Befürworter mit dem Vorwurf einer „Gratismentalität“ ab. Die Länder wiederum wollen die Kosten nicht übernehmen, einige sich allenfalls daran beteiligen, wie zum Beispiel Bremen. Die Grünen wollen ein Nachfolgeticket und dafür das Dienstwagenprivileg schleifen. Diese Regelung begünstigt letztlich den Kauf neuer und großer Fahrzeuge steuerlich – ein Anathema für die FDP.

Deutlich wird der mangelnde Ehrgeiz auch mit Blick auf den Haushalt. Wissing verspricht zwar, dass die notwendigen finanziellen Mittel für die Modernisierung der Bahn bereitgestellt werden. Tatsächlich gibt es aber keinen spürbar höheren Etatansatz. Das hat womöglich zur Folge, dass die Bahn noch länger für eine Erhöhung der Kapazitäten auf der Schiene braucht. Die bisherigen Baupläne gehen von einer Inflationsrate von zwei Prozent aus. Ohne Inflationsausgleich reicht das eingeplante Geld kaum für das Nötigste.

Noch hat die Koalition genügend Zeit für große Fortschritte in der Verkehrspolitik. Dazu gehört aber vor allem das finanzielle Bekenntnis dazu – in Form einer ausreichenden Finanzausstattung für einen beschleunigten Ausbau des Schienennetzes und des Angebots im öffentlichen Nahverkehr, zum Beispiel mit bundesweit geltenden günstigen Tickets. Wenn der Individualverkehr verringert werden soll, darf auch das Dienstwagenprivileg kein Tabu sein. Denn auch dort hängt der Erfolg eines Richtungswechsels am dazugehörigen finanziellen Einsatz.

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