Nach dem Scheitern der Ideologien

Vom nationalen zum rationalen Interesse – Lerneffekte aus der Geschichte. Ein Essay aus aktuellem Anlass

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PICTURE ALLIANCE/PHOTO12
Furchen der Freiheit: Abraham Lincoln, 1865
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Furchen der Freiheit: Abraham Lincoln, 1865

Nach dem Scheitern der Ideologien

Vom nationalen zum rationalen Interesse – Lerneffekte aus der Geschichte. Ein Essay aus aktuellem Anlass

Wer aktuelle Fernseh- und Internetnachrichten verfolgt, könnte meinen, dass die Welt am Abgrund steht: Ein amerikanischer Präsident, der sich verhält wie ein verhaltensgestörtes Kleinkind, ein britischer Premierminister, der im Parlament offenen Rechtsbruch ankündigen lässt, ein ungarischer Ministerpräsident, der offen Antisemitismus propagiert und die Freiheiten von Medien und wissenschaftlicher Forschung bekämpft. Wir sehen populistische Nationalisten in vielen Ländern Europas und daneben autoritäre Regime in Russland und der Türkei, die allesamt verstörende Wirkungen bis in unser Alltagsleben zeigen. Von den Herausforderungen des Klimawandels und der Systemkonkurrenz durch die globalen Machtansprüche der Volksrepublik China ganz zu schweigen. Die Liste ließe sich leicht fortsetzen. Statt jedoch in Panik oder Depression zu verfallen, sind wir aufgerufen zu analysieren, zu verstehen und zu verteidigen, was wir, nicht nur in Europa, in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut haben.

Wer in die Geschichte blickt, erkennt: Die Herausforderungen unserer Gegenwart sind weder neu, noch sollten wir sie zum Anlass nehmen für Fatalismus oder Verzweiflung. Ganz im Gegenteil: Unsere Vorfahren sahen sich stets ähnlichen, oft größeren Herausforderungen gegenüber: persönliche Ohnmacht und enge Lebensgrenzen, Hunger und Krankheiten, Unterdrückung und Armut. Blicken wir in die Geschichte und machen uns die Entwicklung bewusst: Wir können sehen, wie unsere Vorfahren gelebt haben, kennen ihren Lebensalltag und ihre Weltsicht – und können ermessen, um wie vieles größer unser Wissen und unsere Chancen sind. Für unser Handeln in Politik und Wirtschaft, das Verhältnis der Geschlechter und unser Verhalten im Alltag stehen uns die Erkenntnisse aus Jahrtausenden zur Verfügung. Wenn unsere Vorfahren ohnmächtig waren, so hatte das meist ganz reale Gründe: ein Mangel an Wissen, politische Unterdrückung, gesellschaftliche Zwänge, eine Weltsicht, die auf Glauben und Ideologien gründete statt auf Vernunft und analytischem Denken. Zugleich ist der Wille des Menschen zu lernen, zu verstehen und frei zu sein als Triebkraft immer erkennbar.

Nicht erst seit der Aufklärung gilt für uns alle die Forderung: Habe Mut, deinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Die Forderung beschreibt zugleich das Recht jedes Einzelnen: „Kein Mensch ist gut genug, einen anderen Menschen ohne dessen Zustimmung zu regieren“, formulierte Abraham Lincoln dieses Prinzip 1854. Es gilt für alle Menschen, gerade heute, auch wenn wir wissen, dass es keineswegs überall durchgesetzt ist und autoritäre Regime das Prinzip zu bestreiten suchen. Deshalb müssen wir bei allen politischen Programmen, gesellschaftlichen Systemen und Vorschlägen für wirtschaftliche Ordnungen immer danach fragen: Welches Menschenbild liegt diesem Vorschlag zu Grunde? Nimmt es den freien, selbstbestimmten Menschen ernst?

Gerade die Herausforderungen der Gegenwart sind ein Aufruf, sich auf die Erfahrungen zu besinnen, die uns verfügbar sind. Der Fortschritt des Wissens und seine Anwendung in der harten Welt von Wissenschaft, Technik und Medizin ist uns ganz selbstverständlich. Wer sich im Jahr 2020 einen entzündeten Zahn ziehen lassen muss, der geht zur Arztpraxis, nicht zum Dorfschmied. In der weichen Welt von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist die Entscheidungsfindung oft unübersichtlicher. Das liegt vor allem daran, dass vielen Menschen die Erfahrungen unserer Vorfahren, aus denen wir für unsere Gegenwart lernen können, kaum mehr vertraut sind. Dies aber ist der Wert der Geschichte: Wenn wir die Weltsicht, die Strukturen und die Folgen des Lebens unserer Vorfahren betrachten, können wir die passenden Erfahrungen nutzen und müssen deren Leid nicht wiederholen. Wir können verstehen, wie sich Rationalität, Aufklärung und Vernunft als erfolgreiche Prinzipien erwiesen haben. Demokratie, Rechtsstaat und Parlamentarismus, Gleichberechtigung der Geschlechter und politische Teilhabe aller Menschen – sie sind das weiche Äquivalent technischer Errungenschaften der harten Welt.

Im weltweiten Vergleich leben die meisten Europäer seit vielen Jahrzehnten auf einer Insel freiheitlicher und materieller Errungenschaften, die historisch beispiellos ist. Das hat Gründe. Sie liegen im Menschenbild und seinen Konsequenzen. Sie sind ein Lerneffekt aus der Geschichte: Über die Jahre generierte die Praxis des abgestimmten Wirtschaftswettbewerbs wachsenden Wohlstand und bewahrte Freiheit, weil sich alle auf Regeln verständigten und Kompromisse akzeptierten, statt Vorteile auf Kosten anderer, womöglich gar durch gewaltsame Konflikte zu suchen. Die Zusammenarbeit förderte ein neues Verständnis von „nationalem Interesse“, der Nationalstaat löste sich vom Nationalismus. „Nationales Interesse“ wurde „rationales Interesse“, um gemeinsam größere Wettbewerbsfähigkeit, Regeln und Humanität zu sichern.

Derzeit scheint es, als sei das Bewusstsein für die historischen Erfolge von Demokratie und Parlamentarismus, Marktwirtschaft, Rechtstaatlichkeit und die offene Gesellschaft bei vielen Bürgern verblasst. Das Ignorieren historischer Erfahrungen schadet uns, Irrationalität ist auf lange Sicht tödlich. Deshalb müssen wir Werte, Errungenschaften und Regeln unseres rationalen Zusammenlebens immer wieder in Erinnerung rufen.

Das bedeutet auch: Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Grundlagen unserer Demokratie, der Freiheit des Individuums und der gleichen Rechte verteidigt werden. Nach innen gegen die Versuchungen des Populismus und Nationalismus, der einfache Lösungen für komplexe Fragen verspricht und damit die Grundlagen unserer Freiheit und unseres Wohlstands zerstört. Nach außen gegen alle Behauptungen, dass autoritäre Herrschaftssysteme den Menschen ein besseres Leben bieten könnten.

Auf Dauer zeigt sich im Wettbewerb der Systeme stets jene Gesellschaft als kreativer und resilienter, die den einzelnen Menschen nicht nur als Objekt und Teil einer Masse betrachtet, sondern auf die Freiheit des Individuums, seine Kreativität und intrinsische Motivation vertraut. Es bleibt eine dauernde Herausforderung, sich dieses Wertes der Geschichte für unsere Gegenwart bewusst zu machen – und sich immer wieder dafür einzusetzen.

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