Nachkriegsdystopie

Bittere Erkenntnis: Die Weltpolitik wird, wohl oder übel, weiter mit Putin rechnen müssen

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PICTURE ALLIANCE/DPA | CARSTEN KOALL
Botschaft vor der Botschaft: Unter den Linden, Berlin, März 2022
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PICTURE ALLIANCE/DPA | CARSTEN KOALL
Botschaft vor der Botschaft: Unter den Linden, Berlin, März 2022

Nachkriegsdystopie

Bittere Erkenntnis: Die Weltpolitik wird, wohl oder übel, weiter mit Putin rechnen müssen

Die Wut der Verzweiflung und die rationale Analyse gehen selten eine funktionierende Partnerschaft ein. Meist schließen sie einander aus. So auch jetzt im Angesicht von Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine.

Der ohnmächtige Aufschrei im weitgehend machtlosen Westen trifft auf die zynischen Lügen über eine „militärische Spezialoperation ohne zivile Ziele und Opfer“, mit denen das Putin-Regime weite Teile der russischen Öffentlichkeit manipuliert. Wenn der russische Außenminister Sergei Lawrow behauptet, Russland habe nicht die Ukraine angegriffen, und dabei dem Rest der Welt eine „Medienmanipulation“ unterstellt, zeigt dies, dass die Romanfiktion „1984“ von George Orwell im heutigen Russland Wirklichkeit geworden ist.

Derweil werden die staatlichen Strukturen der Ukraine militärisch langsam zermalmt, während die Bevölkerung eine ungeahnte Widerstandskraft entwickelt, statt sich von der russischen Armee „befreien“ zu lassen.

Das alles führt zu einer verzweifelten Wut auf Seiten der Opfer und wohl auch zu einer Wut des Oberbefehlshabers im Kreml, dessen Truppen die Eroberungsziele weniger schnell zu erreichen scheinen als geplant.

Eine rationale Analyse auf beiden Seiten mag bestenfalls noch im militärstrategischen Denken Platz haben, wohl aber kaum in der Politik. Putins Eroberungswille steht dem Überlebenswillen der Ukrainer gegenüber.

Und dennoch muss die Frage erlaubt sein: Was kommt danach? Was folgt nach diesem traumatischen Vernichtungsangriff und nach der Vertreibung von Millionen Menschen aus der Ukraine?

Schon heute scheint festzustehen, dass die russische Armee zwar das Land erobern kann. Aber sie wird die Ukraine nicht besiegen. Dafür hat die Ukraine – trotz zahlreicher politischer Defizite beim Aufbau einer Demokratie und hoher Korruption – bereits verinnerlicht, was Freiheit, vor allem Meinungsfreiheit und politischer Pluralismus, bedeuten.

In dem Maße, wie die Ukraine politisch nach Westen an ihren alten Feind Polen herangerückt ist, hat sie sich im Osten von ihrem großen Bruder Russland entfernt – lange Zeit sogar sehr zum Bedauern vieler Ukrainerinnen und Ukrainer, die nie wirklich Russland feindlich gesinnt waren und auch die russische Sprache bis zu diesem Krieg als „Lingua franca“ begriffen haben. Die Abkehr vom Osten scheint daher keine Abkehr von der gemeinsamen ostslawischen Identität zu sein, sondern eine Abkehr von der autoritären, bevormundenden Herrschaft Putins. Er ist in die Zarenzeit und die Zeit der großrussischen Slawophilen zurückgefallen, die weder eine ukrainische Sprache noch eine ukrainische Nation anerkannt haben. Dabei hat Putin – nach der Annexion der Krim und der Abspaltung der ukrainischen Ostgebiete – erneut das Grundgesetz des internationalen Zusammenlebens verlassen, das die Souveränität eines Staates vor einem Angreifer schützen soll. Denselben Vorwurf haben russische Politiker angesichts des Irak-Krieges und der Nato-Bombardierung von Serbien gegenüber dem Westen erhoben.

Befinden wir uns also wieder am Beginn einer dauerhaften Ost-West-Konfrontation, die nach dem heißen Krieg gegen die Ukraine in einen neuen kalten Krieg münden wird? Ist es überhaupt sinnvoll zurückzublicken, um die Spirale der Eskalation zwischen Russland und der Ukraine aufzuarbeiten?

Ja, das muss sein, so schmerzlich es auch für beide Seiten sein mag. Denn in dem Maße, in dem Russland seit dem Maidan 2013/14 – auch militärisch – Einfluss auf die ukrainische Politik zu nehmen versucht hat, hat sich die Ukraine mit scharfen anti-russischen Sprach- und Mediengesetzen und einer deutlichen Hinwendung zum Westen gegen Russland abzugrenzen versucht. Vermittlungsversuche des Westens wie Minsk I und II sind dabei gründlich und an beiden Konfliktparteien gescheitert.

Dies rechtfertigt nicht den russischen Angriff auf die Ukraine. Aber es ist absehbar, dass dieser Angriff die europäische und die geopolitische Landschaft nachhaltig beeinflussen wird. Russland als der größte Flächenstaat der Erde wird sich noch enger mit anderen autoritär geführten Staaten verbünden. Trotz der massiven Sanktionen wird das Land seine gigantischen Naturschätze in die Waagschale außenpolitischer Ambitionen werfen, um dadurch politisches Wohlverhalten zu erwirken. Das wird nicht sofort und auch nicht vorrangig in Europa passieren. Aber die Frage ist, wie lange auch Staaten innerhalb der EU oder deren Anwärter einem solchen Angebot widerstehen können. Und Deutschlands Abhängigkeit von den russischen Ressourcen ist nur zu offensichtlich.

Dass Putin nicht von der eigenen Bevölkerung aus dem Amt gejagt wird, dürfte jedem klar sein, der die steigende Popularität des russischen Präsidenten im eigenen Land seit Kriegsbeginn beobachten kann, und dies oftmals mit dem schizophrenen Zusatz, man sei zwar gegen den Krieg, aber für Putin und für Russland.

Im Klartext ist festzustellen, dass auch nach diesem Krieg die Weltpolitik mit Putin rechnen muss. Darauf werden sich die politischen Analysten in den Regierungen ebenso einstellen müssen, wie es offensichtlich schon jetzt führende Politiker im Westen machen, die immer wieder den – telefonischen – Dialog mit dem russischen Präsidenten suchen.

Doch die Geschichte der russisch-europäischen Beziehungen weist über einzelne Personen und deren Epochen hinaus. Gerade aus deutscher Perspektive haben wir bitter lernen müssen, dass die Verbrüderung und dann Entzweiung der beiden Diktatoren Hitler und Stalin sowie der deutsche Überfall auf den Osten Europas ebenfalls die europäische Grundordnung nachhaltig erschüttert hat. Damals mochte kaum jemand glauben, dass wir zu einer Nachkriegsordnung zurückkehren könnten, die zumindest einen kalten Frieden ermöglichen würde. Auf diesen Punkt bewegt sich die Geschichte jetzt wieder zu. Und in der langfristigen Perspektive ist eine europäische Nachbarschaftspolitik ohne oder gegen Russland weder wünschenswert noch realistisch. Aber eben nur mit einem Russland, das internationale Normen wieder zu akzeptieren gelernt hat. Welche Rolle dabei die Ukraine einnehmen wird, hängt kurzfristig vom Kriegsverlauf, langfristig aber von einer europäischen Bündnis- und Friedenspolitik ab, bei der Russland – hoffentlich – wieder unser Partner sein wird.

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