Nadelprobe

Die Stiko lässt sich Zeit mit ihrer Empfehlung. Noch ein Grund mehr für alle Erwachsene, sich impfen zu lassen

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PICTURE ALLIANCE/DPA/DPA-ZENTRALBILD | HENDRIK SCHMIDT
Auf Wunsch auch vegan.
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PICTURE ALLIANCE/DPA/DPA-ZENTRALBILD | HENDRIK SCHMIDT
Auf Wunsch auch vegan.

Nadelprobe

Die Stiko lässt sich Zeit mit ihrer Empfehlung. Noch ein Grund mehr für alle Erwachsene, sich impfen zu lassen

Das neue Schuljahr beginnt für viele Eltern mit einer Zumutung. In den Nachbarländern steigt die Zahl der Infektionen mit SARS-CoV-2 rapide, bis die vierte Welle auch über Deutschland schwappt, dürften wohl nur noch ein paar Wochen vergehen. Statt unsere Kinder in den Schulen unkontrolliert an einem Großexperiment mit ungewissem Ausgang teilhaben zu lassen, sollten wir sie also besser impfen. Oder etwa nicht?

Was Mütter und Väter in den vergangenen zwei Monaten bereits als kaum zu ertragendes Gefühlskarussell erlebten, wurde in dieser Woche in grotesker Weise überdreht. Seit die Gesundheitsminister von Bund und Ländern am vergangenen Montag beschlossen, die Corona-Impfung für Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren künftig flächendeckend in Impfzentren und Arztpraxen anzubieten, sind Eltern einem höchst merkwürdigen Wirrwarr an Meinungen und Empfehlungen ausgesetzt. Sie können auf die Gesundheitsminister hören und die Impfung als „Baustein“ sehen, „um einen sichereren Start in den Lehr- und Lernbetrieb nach den Sommerferien zu ermöglichen“, wie es Klaus Holetschek formulierte, bayerischer Gesundheitsminister und Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz.

Oder aber Mütter und Väter vertrauen auf die Experten der Ständigen Impfkommission (Stiko), deren ureigene Aufgabe es ist, als unabhängiges Gremium Nutzen und Risiko von Schutzimpfungen abzuwägen. Die Stiko, so viel dürfte bekannt sein, hat die Impfung bislang nur für Kinder und Jugendliche mit Vorerkrankungen in besagter Altersgruppe empfohlen.

Vorbild USA?

Zugegeben, es macht zunächst stutzig, dass in den USA Gleichaltrige schon seit Mai geimpft werden, dort haben Millionen von ihnen bereits die Spritze erhalten. Worauf also warten die Spezialisten in Deutschland? Tatsächlich muss jede nationale Impfkommission in ihrer Entscheidung berücksichtigen, in welcher Situation sich das jeweilige Land gerade befindet. In den USA zum Beispiel liegen die Fallzahlen viel höher als in Deutschland. Und je mehr Kinder und Jugendliche sich mit SARS-CoV-2 infizieren, desto mehr erleiden Komplikationen, weil es immer einen bestimmten Anteil der Infizierten trifft. In Deutschland liegt die Inzidenz momentan unter 20, wir befinden uns also aktuell in keiner bedrohlichen Situation, in der wir Kinder und Jugendliche sofort schützen müssen. Da erscheint es nur schlüssig, dass die Stiko erst einmal abwartet, bis noch mehr Daten aus den USA über mögliche Nebenwirkungen der Impfung in besagter Altersgruppe vorliegen. Zumal die deutschen Experten mit ihrer Haltung keineswegs allein dastehen, ähnlich gehen auch die Kollegen Großbritannien vor.

Problem- und Gefahrenknäuel

Allerdings tauchen zunehmend Berichte über Kinder und Jugendliche auf, die nach einer harmlos verlaufenden Corona-Infektion an Langzeitfolgen erkranken, Mediziner sprechen dann von Long Covid. Kanadische Wissenschaftler berichteten kürzlich über eine internationale Erhebung, in der sechs Prozent aller Kinder noch drei Monate nach einer Corona-Infektion an Symptomen litten, an Atembeschwerden oder Kopfschmerzen etwa, Müdigkeit oder Depressionen. Noch ist Medizinern wenig über Langzeitfolgen von SARS-CoV-2-Infektionen bei Kindern und Jugendlichen bekannt. Oft ist gar nicht deutlich, ob die Infektion tatsächlich der Auslöser der Symptome war. So ergab eine Studie der Uniklinik Dresden zum Beispiel, dass die besagten Symptome genauso oft bei Kindern auftraten, die sich mit dem Virus gar nicht infiziert hatten. Dort spielt also eine psychische Komponente eine wichtige Rolle.

Was aber bedeutet das alles für die Kinder und Jugendlichen, die bereits jetzt in ihre Klassenzimmer zurückkehren müssen? Da hilft es, sich die Erhebungen an verschiedenen Münchner Schulen aus dem vergangenen Herbst und dem Frühjahr anzusehen. Sie ergaben: Übertragungen des Virus von Schüler zu Schüler finden nur äußerst selten statt. Es waren bislang vor allem die Erwachsenen, die den Erreger in die Klassen trugen. Inzwischen sind jedoch Schätzungen zufolge mindestens vier von fünf Lehrern zweimal geimpft.

Noch wissen wir nicht, ob die neue Delta-Variante des Virus das Szenario verändert. Bislang wurde zunächst bei jeder neuen Virus-Variante behauptet, dass sie besonders stark unter Kindern grassiert. Das hat sich aber stets als Irrglaube entpuppt. Momentan jedenfalls sehen wir schlicht mehr Infektionen bei Kindern als bei älteren Menschen, weil sie sich über Monate hinweg regelmäßig auf das Virus testen mussten. Erwachsene dagegen wurden längst nicht so oft auf eine Infektion hin untersucht.

Mit oder ohne Senf

Bald schon werden mehr Analysen der Impfdaten aus den USA zur Verfügung stehen, schon in der kommenden Woche wird die Stiko eine neue Stellungnahme zur Impfung von Kindern und Jugendlichen abgeben. Der aktuelle Vorstoß der Gesundheitsminister aber untergräbt das Vertrauen in die Arbeit der Impfkommission und nicht zuletzt auch in die Impfstoffe selbst, was langfristig verheerende Folgen haben könnte.

Zumal in der aktuellen Diskussion gern vergessen wird, dass unter den über 60-Jährigen immer noch eine von fünf Personen ungeimpft ist. Wenn es der Politik also tatsächlich um den Schutz von Kindern und Jugendlichen geht, sollte sie dafür sorgen, dass Erwachsene das Virus nicht mehr in Schulen oder Familien tragen können. Mehr Impfbusse sind nötig, die den Piks unkompliziert in Stadtzentren anbieten, mehr Aufklärung bestimmter Bevölkerungsgruppen hilft ebenfalls. Und manchmal genügt sogar eine kostenlose Bratwurst.

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